Die Welt dreht sich immer weiter ...Shadowrun

Tagebuch eines Straßenmagiers

Die Erlebnisse des Galen Knightsbride

verfasst in Seattle und anderen Orten, 2052 A.D.

© 1995,96 by Karsten Flott

Chiphead, Mercurial

 

W

ir schrieben das Jahr 2052. Ort: Seattle, United Canadian & American States. Das Leben war zur Zeit recht angenehm. Man verdiente viel Geld, hatte keine lebensbedrohenden Feinde im Nacken und auch ansonsten ließ sich hier eine Menge anstellen. Nach meinem letzten Run mit Murphy und Sharyl hätte ich mir eigentlich keine Geldsorgen machen müssen. Der Flaschendämon hatte uns bei Renraku satte 1,2 Millionen eingebracht. Kein Pappenstiel für Leute wie uns. Eigentlich hätte ich wie Murphy die Klamotten für ein paar Monate hinschmeißen und Urlaub in der Südsee machen sollen, aber das Verschwinden von Eve Donovan ließ mir keine Ruhe.

Ich konnte nicht einfach abschalten und gute Laune aufsetzen. Ich hatte ganz Seattle nach ihr abgegrast, sämtlichen Connections gesteckt, dass ich sie suchte und sogar eine Prämie für Hinweise versprochen. Vielleicht war das unklug von mir. Schließlich wusste ich nicht, ob sie gekidnappt worden oder ob sie untergetaucht war, weil sie Ärger hatte. Meine Aktionen könnten ein paar Leute aufscheuchen, die ihre Nase zu weit in anderleuts Angelegenheiten steckten und Eve gefährden konnten. Aber andererseits hätte ich es mir nie verziehen, wenn ich gar nichts getan hätte. Hoffentlich war ihr nichts zugestoßen...

Solche Überlegungen sollte ich nicht anstellen. Ich geriet viel zu leicht ins Grübeln. Vielmehr sollte mich interessieren, woher dieser Mega-Power-Elementargeist im Astralraum neulich hergekommen war, aber auch von ihm hatte ich keinerlei Spuren mehr gefunden. So gründlich im Verwischen von Hinweisen waren eigentlich nur Kon-Agenten. Und nur wenn viele Credits auf dem Spiel standen. Ehrlich gesagt hatte ich keinen blassen Schimmer, was ich noch tun konnte. Sharyl konnte mir auch nicht mehr helfen, da sie Ärger mit ihrer Familie hatte. Dass sie so eine starke Bindung zu ihren Leuten hatte, hätte ich nie vermutet. Jedenfalls war sie kaum noch hier. Trieb sich viel im Redmond-Viertel bei ihrem Bruder herum, irgend so einem Kon-Pinkel mit Dreck am Stecken. Ich hoffte, sie bat mich nicht, ihr bei der Sache zu helfen. Ich hätte nicht nein sagen können.

 

7.06.2052

C

arl Everything, der Schieber, schusterte mir heute einen Auftrag zu. Um 15.30h traf ich mich mit einem Johnson von Intellips Microelektronische Bauelemente und zwei Runnern im „Zum Toten Ork“ in der allerfeinsten Pinkelgegend. Der Johnson (wie ich später erfuhr, hieß er wirklich Mr. Johnson) war einfach lächerlich und machte nur einen neuen Termin mit einem anderen Konzernmann, sagte nicht einmal etwas über den Auftrag. Er kam sich so verwegen vor in seinem unauffälligen Trenchcoat, dass ich mich nicht beherrschen konnte und die ganze Zeit nur lachte. Die beiden Runner waren etwas komische Typen: Die eine war eine Riggerin/Deckerin, die so gut wie überhaupt nicht sprach und ständig grinste, als bekäme sie Geld dafür. Sie nannte sich die „Undurchsichtige“. Ich taufte sie scherzhaft auf „Miss Ininvisible“. Der andere, Willy, war ein Kabeltyp, ein sehr junger Kämpfer mit romantischen Vorstellungen von Magie und Zauberern und sehr sympathisch. Mit ihm ging ich auch schnurstracks ins „Matchstick“, meine Lieblingskneipe, und wir plauderten den ganzen Abend.

Als ich in der Nacht nach Hause kam, war Sharyl ausnahmsweise einmal da und ging für mich in die Matrix. Sie fand über Intellips heraus, dass sie - als kleine Firma - hauptsächlich Zulieferer für die Itaru-Corporation war. Es war ein solider Kon mit wenig Dreck am Stecken und wurde von den großen in Ruhe gelassen. Itaru war ziemlich undurchsichtig und forschte an künstlicher Intelligenz.

8.06.2052

U

m 16.30h trafen wir uns vor dem Intellips-Firmengelände und wurden alsbald von Jack Pramiel begrüßt, unseren Kontaktmann. Wir sollten ein paar teure Chips von Seattle zur Itaru-Zweigstelle im westlichen Salish-Gebiet bringen. Pramiel sollte Beifahrer sein. Er war ein Mittvierziger, der einen sehr kompetenten Eindruck machte. Sicherlich hart wie Stahl, wenn es ums Geschäft ging. Als Belohnung erhielten wir 40.000¥ und die Ausrüstung, die wir für nötig erachteten, leihweise. Später konnten wir diese Ausrüstungsgegenstände zu 90% des tatsächlichen Wertes kaufen. Die Riggerin wollte natürlich sofort ein Fuchi-Cyber-4 für den Auftrag. Leider fiel ihr kein vernünftiger Grund ein, wozu sie ein Cyberdeck auf einer Kurierreise brauchte. Ihr enttäuschter Gesichtsausdruck war wirklich bemitleidenswert.

Neben einigen Kleinigkeiten forderten wir eine Überwachungsdrohne und einen Leitsignalorter inklusive Leitsignal für den Koffer mit den Chips an. Mr. Pramiel meinte zwar, in die Verlegenheit, den Koffer suchen zu müssen, sollten wir erst gar nicht kommen, aber man wusste ja nie...

9.06.2052

I

n voller Montur und mit allen nötigen Ausrüstungsgegenständen ließ ich mich per Taxi zum Firmengelände fahren. Zwar hatte mir Willy angeboten, mich mit seinem Wagen (der als Kurierfahrzeug fungierte) abzuholen, aber dabei läutete mehr als eine meiner Alarmglocken. Solange ich die Chummers nicht näher kannte, erfuhren sie bestimmt nicht, wo ich wohnte. Ich erinnerte mich gut an diesen koreanischen Decker, der allzu freigiebig Visitenkarten austeilte. Ihn erwischte es im Schlaf. Hatte wohl Aztech ein bisschen zu oft auf den Schlips getreten - sagte jedenfalls Fever. Das würde mir nicht passieren.

Bei Intellips trafen wir einen schwer gepanzerten Typen, der an jeder freien Schlaufe seiner Suite eine Granate hängen hatte und eine Wumme in der Hand hielt, über die selbst Murphy nicht gespottet hätte. Wir hätten ihn kaum erkannt, wenn er sich nicht vorgestellt hätte. Es war Konzernpinkel Jack Pramiel höchstpersönlich. Als er uns mitteilte, dass er Bullethead genannt werden wollte, erinnerte ich mich an einen Bullethead, der vor einer Dekade oder mehr ein berühmter Runner war. Seine besten Zeiten waren ziemlich lange her. Also arbeitete er inzwischen als Konzernmann. Er brauchte anscheinend eine Abwechslung, sonst hätte er uns ja nicht begleiten wollen. Lächelnd dachte ich an Willy, der unser Honorar mit dem Argument in die Höhe zu treiben versuchte, dass wir auf ihn, einen alten Mann, aufpassen mussten. Der „alte Mann“ steckte uns wahrscheinlich dreimal in die Tasche, so wie er aussah.

Pramiel verstaute mit uns die Ausrüstung im Wagen, einem alten Daimler, der aber viel Platz im Innenraum hatte. Leider waren wir gezwungen, sämtliche Waffen und Ausrüstungsgegenstände in den Kofferraum zu stecken, da wir die Grenze zum Salish überqueren mussten. Die Wächterdrohne bekamen wir so gerade in die Ladefläche. ---

Wir kamen gut über die Grenze. Die Patrouillen ließen uns in Ruhe vorbeifahren, ohne irgend etwas zu kontrollieren. Wir setzten die Drohne aus und Miss Ininvisible hatte genug damit zu tun, sie zu fliegen. Sie erkundete die Gegend vor uns. Irgendwie hatte ich das Gefühl, beobachtet zu werden. Huschte da nicht ein Schatten durch den Wald? Als ich begann zu askennen, stellte ich leider auch nichts weiter fest. Als mein Blick dann aber über meine Chummer schweifte, erschrak ich gewaltig: Miss Ininvisible war eine Magierin! Ihre Aura war für einen Augenblick ganz deutlich zu sehen. Irgend etwas stimmte da aber nicht. Eine Aura dieser Art hatte ich noch nie askennt. Sie war seltsam falsch und unnatürlich, ganz anders als bei Schamanen oder Hermetikern... Mehr konnte ich nicht erkennen, deshalb wechselte ich meinen Blick wieder in die physische Welt. Da würde ich aber Erkundigungen einziehen. Mal sehen, ob ich nicht einen Hinweis in der Bibo fände.

Nach einigen Stunden Fahrt - mir begannen gerade, die Augen schwer zu werden - erschütterte plötzlich eine Explosion vor uns die Straße. Mehrere Bäume fielen auf die Fahrbahn und versperrten uns den Weg. Willy schaffte es gerade, mit schleuderndem Wagen zu bremsen. Noch bevor wir irgend etwas machen konnten, hörten wir die Maschinengewehre einer Jägerdrohne über uns und die Querschläger auf der Straße. Entweder hatten wir viel Glück oder sie wollte uns nicht treffen. Als wir endlich die Türen aufmachten und auf die Straße stürzten, liefen wir fast drei Söldnern in die Arme, die begannen, mit schweren Pistolen auf uns zu schießen. Sie überstanden nicht länger als eine Minute. Zwei wurden tödlich von mehreren Schüssen aus den Ares Predators von Bullethead und Willy getroffen, einen schickte ich ins Reich der Träume. Irgendwo erschütterte eine zweite Explosion den Wald. Gerade dachte ich, es sei vorbei, als über uns ein Manaball hochging. Willy wurde schwer verletzt, ich schaffte so gerade, mich zu schützen. Aber es war nur ein letztes Aufbäumen vor der Niederlage. Als der Magier sah, wie es um seine Kameraden bestellt war, ergab er sich. Mir fiel ein, dass irgendwo noch ein Rigger die Drohne steuern musste, die uns angegriffen hatte, aber Ininvisible meinte nur, dass sie den schon erledigt hätte - mit ihrer Drohne. „Leider hat sie es nicht überstanden,“ sagte sie. „Wer,“ fragte ich, „die Riggerin?“ „Die meinte ich nicht, sondern die Drohne. Die Riggerin hat sich über den Wald verteilt.“ Deshalb war der Magier so blass. Wahrscheinlich hatte er direkt neben ihr gestanden.

Wir gestatteten ihm, seine Leute zu verarzten. Ich half in der Zwischenzeit Willy, erst mit Magie, dann mit dem Medkit. Er würde es überstehen. Bei den Söldnern sah die Sache anders aus: einen bekam ich wieder ganz gut hin, aber dem anderen vermochte ich nur ein Traumapatch aufs Herz zu kleben, so dass er stabilisiert wurde, bis irgend jemand ihn abholte. Ich verzichtete darauf, die Reste der Riggerin einzusammeln. Nach Bulletheads Beschreibung, der kurz nachgeschaut hatte, war von ihr wirklich nicht mehr viel übrig. Ich verstand zwar nicht so ganz, wieso er die Runner einfach laufen lassen wollte, aber wahrscheinlich dachte er, dass sie schon genug gestraft waren. Außerdem war er der Boss, und daher hatte ich keine Einwände.

In einer ruhigen Minute knöpfte ich mir den Magier vor. Er behauptete, ein Johnson hätte sie angeheuert, aber wüsste nicht, von welchem Kon. Unglücklicherweise konnte ich auch mittels eines Zaubers nicht erkennen, ob er die Wahrheit sagte. Allerdings machte er den Eindruck, als ob er tief erschüttert war vom Tod seiner Chummerin. Immer wieder murmelte er: „Hättet ihr nicht ein wenig sanfter sein können? Wir sind doch nicht im Krieg.“ Was der sich wohl dachte! Ein Run war doch kein Footballspiel! Trotzdem tat es mir leid um sie. Ininvisible hätte sie ja nicht gleich umbringen müssen. Sie machte aber keine Anstalten, Reue zu zeigen, im Gegenteil, sie grinste wie immer. Seufz. Noch so eine absolut skrupellose Type wie Nuttree, mein erster Chummer und seines Zeichens Plastikelf. Das erste, was ich von ihm sah, war sein auf einem Gyrostabilisator montiertes MG. Und das erste, was ich tat, noch bevor ich ein einziges Wort mit ihm gesprochen hatte, war, ihn von einer tödlichen Wunde zu heilen. Ich hatte immer noch kein Wort mit ihm gesprochen, als er meinen halben Kühlschrank ausgeräumt und aufgefuttert hatte. Als ich dann mit ihm sprach, war es irgendwie überraschend für mich, dass er nicht blökte oder grunzte.

Ich hoffte, dass Ininvisible nicht eine solche Type war - nein, dafür war sie zu hübsch. Aber ihre Aktionen gaben mir zu denken, und ihre Aura ... Ich würde sie im Auge behalten müssen.

Wir ließen die Runner am Straßenrand stehen und suchten uns einen Weg durch den Wald. Bald ging es weiter auf der Straße. Der Rest der Reise verlief ziemlich ereignislos. Der Itaru-Komplex am Pazifik war riesig, eine kleine Stadt mit Flughafen und vielen Wachleuten. Die Ware schien in Ordnung zu sein, denn wir erhielten jeder eine Prämie von 20.000¥.

10. - 11.06.2052

N

ach einem kurzen Nachtaufenthalt fuhren wir wieder. Willy war ärztlich versorgt worden und war bald schon wieder munter. Als wir nach 25 Stunden wieder in Seattle angekommen waren, lud uns Jack in die Space Needle ein. Obwohl wir eigentlich hundemüde waren, verbrachten wir einen sehr amüsanten Abend mit vielen alten Runnergeschichten aus den goldenen Tagen des Schattenlaufs, wie Jack sie nannte. Zum Abschied sagte er uns, dass wir ihn immer erreichen könnten, wenn wir irgendwann einmal seine Hilfe bräuchten. Ein sehr netter Typ, nur seine Com-Nummer wollte er nicht herausrücken. Die sollten wir selbst herauskriegen, sagte er. Bei seinen Worten stellten sich meine Nackenhaare auf; irgendwas stimmte nicht mit dem ganzen Run - war mir etwas entgangen? Ich wusste allerdings nicht, was ich jetzt noch hätte tun sollen. Na ja, vielleicht würde ich Sharyl mal wieder in die Matrix schicken. Willy und Miss Ininvisible schien nichts aufgefallen zu sein. Sie waren wahrscheinlich zufrieden, dass sie einige Ausrüstungsgegenstände hatten abstauben können. Ich ließ mir ihre Telekomnummern geben; wahrscheinlich würde ich sie beim nächsten Run wieder kontakten.

Als ich nach Hause kam, war Sharyl wie so oft in letzter Zeit nicht da. Ich ging in mein Zimmer unserer 50qm-Wohnung, setzte mich vor das Seikosha Datapower und suchte in meiner Bibliothek nach einem Hinweis auf die merkwürdige Aura von Miss Ininvisible. Die Bibliothek hatte ich als Abschiedsgeschenk und bleibende Erinnerung von Atalaya, meiner elfischen Lehrerin, erhalten. Immer wenn ich sie benutzte, musste ich an ihre überirdisch strahlenden Augen denken. Mein Gott, war sie schön gewesen. Was sie damals an mir gefunden hatte, wusste ich heute noch immer nicht. Ich war damals nicht mehr als ein gerade der Pubertät entwachsener Waisenknabe, der sein Leben in Tir zugebracht hatte, weil das Schicksal es gut mit ihm meinte. Trotzdem liebte sie mich. Vielleicht nicht nur als Freundin, sondern auch als Mutter. Sie unterwies mich in jeder Kunst, der sie fähig war, und dazu gehörte auch die Magie. Vor allem die Magie. Oh, ich erinnerte mich gut an unsere gemeinsamen Stunden im Astralraum, nachdem ich es endlich geschafft hatte, meiner körperlichen Hülle zu entschlüpfen. Liebe im Reich der Sinne. Leider war unsere Beziehung irgend jemandem im Beraterstab des Großfürsten ein Dorn im Auge, weshalb ich mich von heute auf morgen von meiner gewohnten Lebensweise trennen musste und mich nach Seattle durchschlug. Mit einigen Credits von Atalaya natürlich. Und ihrer Bibliothek, die sich bisher als nahezu perfekt erwiesen hatte.

Ich sollte mich wieder auf meine Arbeit konzentrieren. Mal schauen, ob das Wissen Tir Tairngires über magische Phänomene genauso gut war wie sein Ruf.

12.06.2052

I

rgendwann in der Nacht bin ich vor meinem Datenleser eingeschlafen. Heute morgen fühlte ich mich wie gerädert. Nach dem Frühstück (bestehend aus Nutrisoy) fuhr ich zu Willy. Wohnt in einer total verspießten Gegend, der Knabe. Passt da überhaupt nicht rein. Wahrscheinlich ist er von Beruf Sohn oder so was, und mit Runs verdient er sich sein Taschengeld. An seiner Haustüre angekommen, erfuhr ich auch endlich seinen Nachnahmen: „Gunware“. Ich bat ihn, nachdem er mich herein gelassen hatte, in die Matrix zu hopsen und nach einem Hinweis auf irgend etwas zu suchen, das mein ungutes Gefühl hinsichtlich unseres Runs bestätigen würde. Leider meinte er, dass er nur Hobbydecker sei und seine beschränkten Fähigkeiten eigentlich nur für seine Kontoab- und Zugänge einsetze. Keineswegs würde er sich in das vertrackte Matrix-System von Intellips oder gar Itaru wagen. Miss Ininvisible war leider auch nicht zu erreichen (trotz Handgelenktelekom!) und daher beschloss ich, vorerst die Sache auf sich beruhen zu lassen.

Willy und ich schauten uns eine Rockmusiksendung an, in der Maria Mercurial, eine bekannte Sängerin, interviewt wurde. Sie war eine starke Persönlichkeit, die mit ihren Liedern von der Ungerechtigkeit der Kons sang und manchem Manager damit auf den Schlips trat. Sie hatte zwar überhaupt keine Manieren, aber war mir irgendwie seltsam sympathisch, wahrscheinlich wegen ihres Engagements für die Schwächeren. Was mir auffiel, war, dass sie keine Auskünfte über ihre Vergangenheit geben wollte; angeblich war sie über einen zu langen Zeitraum SimSinn - ab-hängig. Willy jedenfalls war total begeistert und rief andauernd: „Ist sie nicht toll? Starke Frau,“ während er mir in die Rippen knuffte. Nun muss ich zu meiner Person sagen, dass ich keineswegs auf neuzeitliche Musik abfahre, sondern vielmehr auf die großen Klassiker wie Symphonien von Beethoven, Händel, Haydn, Vivaldi und Opernmusik von Wagner, Mozart, Rossini und auch Verdi. Auch die Musicals des 20. Jahrhunderts waren sehr interessant für mich, allen voran die Musik Webbers. Mit der modernen synthetischen Musik hatte ich mich nie richtig angefreundet. Deshalb war ich auch nicht gerade begeistert, als Willy vorschlug, heute abends in das in der Musiksendung angekündigte Konzert von besagter Sängerin zu gehen. Aber er drängelte und nörgelte so lange, bis ich schließlich einlenkte. Dies jedoch nur unter der Bedingung, dass er seinerseits mit in ein klassisches Konzert ging, das in zwei Tagen stattfand, nämlich jenes von Hitamoto Sulu, der Mozarts Klavierkonzerte so trefflich zu interpretieren verstand. Während meiner Rückfahrt ins Renton-Viertel bestellte ich telefonisch also zwei Karten auf den besten Plätzen. Willy seinerseits wollte sich schon früh in die Schlange vor der Rockkneipe „Underworld ´93“ anstellen, damit er noch Karten für das Mercurial-Konzert bekam.

Als ich um 6.00 pm vor der Kneipe ankam, war das reinste Chaos ausgebrochen. Menschenmengen versperrten schon eine Viertelmeile vor dem Schuppen die Straße und alles war großräumig abgeriegelt. Ich funkte Willy daher kurz mit meiner Wristkom an und traf ihn direkt vor einem riesigen Rausschmeißer-Troll. Willy hatte Ininvisible erreicht und mitgebracht. Wie immer breit lächelnd begrüßte sie mich mit „Hallo!“. War richtig gesprächig heute. Die beiden hatten leider keine Karten mehr bekommen. Wir mussten uns also irgend etwas einfallen lassen, um an dem Troll vorbeizukommen. Ininvisible knöpfte ihre Bluse halb auf und versuchte ihr verführerischstes Lächeln, aber der Troll blickte uns nur finster an und meinte: „Eure Karten!“ Ich griff auf einen nicht ganz astreinen, aber wirkungsvollen Trick zurück und drang in die Gedanken des Hünen ein. Nachdem ich ihm befohlen hatte, uns durchzulassen, tauchte ein neugieriger LoneStar-Cop auf und wollte wissen, ob irgend etwas nicht stimme. Nur mit äußerster Überredungskraft gelang es uns, den Cop davon zu überzeugen, dass er sich keine Gedanken machen brauchte. Zwar beäugte er uns misstrauisch, ließ uns aber passieren, nachdem auch der Troll unter meiner Herrschaft ihm versichert hatte, dass wir seine Chummer und in Ordnung seien. Als Mr. T. plötzlich einen Anruf bekam, befürchtete ich schon, dass wir irgendwie unliebsame Aufmerksamkeit auf uns gelenkt hätten. Aber er sagte nur: „Da will jemand mit euch sprechen. Um 2.00 am in der Garderobe, und fragt nach Max.“ Wer uns da ins Visier genommen hatte, würden wir also bald erfahren. Wir gingen durch und „genossen“ die Musik. Wie laut es dort war! Wenigstens fielen wir hier nicht weiter auf unter diesen ganzen ausgeflippten Chummers. Willy traf bald ein paar Bekannte und Ininvisible und ich landeten schnell an der Bar.

Maria Mercurial flippte auf der Bühne herum und riss eine super Show. Sie war wirklich gut. Nicht dass ich ihre Art der Musik besonders mochte, vielmehr war es ihre Ausstrahlung von Kraft, Härte und Sex-Appeal, die sie in einer einzigartigen Kombination miteinander verband. Dass sie in einem solch kleinen Schuppen auftrat, wunderte mich. Sie hätte locker Seattles Drome füllen können.

Nach einer Weile, in der ich versuchte, mich mit Ininvisible zu unterhalten, und kläglich scheiterte, kamen wir auf den Gedanken, Informationen zu sammeln. Wir fragten den elfischen Barkeeper, der hinter dem Tresen stand, nach diesem Max. „Ich funktioniere so:“ sagte er. „Man wirft 50 Mäuse rein und eine Antwort kommt heraus.“ Seine Betonung lag auf ´eine´ Antwort. „Toll“, meinte ich. „Ich funktioniere ähnlich. Ich stelle eine Frage und wenn ich eine gute Antwort höre, dann lässt sich darüber reden.“ Leider wollte er sich darauf nicht einlassen. Als wir schließlich seiner Methode zustimmten, gingen wir in ein alkovenähnliches Separée und unterhielten uns leise.

Tellin, der Elf, erzählte uns viel über geschäftsinterne Sachen, dass Max Foley einer der besten in seinem Geschäft war, wenn es darum ging, neue Bands zu promoten und aufzubauen. Allerdings liefen sie ihm alle nach einiger Zeit weg. Wie auch immer, seit einem Monat übernahm er das Management von Maria Mercurial. Falls wir einen Deal mit ihm machten, sollten wir soviel wie möglich aus ihm herauspressen. Er war ein verdammter Geizhals.

Marias früherer Manager war Armando Hernandez aus Atzlan, der nicht ganz einverstanden war mit ihrer Entscheidung und deshalb irgendwelche Leute angeheuert haben soll, um ihr angst zu machen.

Maria wiederum war hinter ihrer harten Fassade eigentlich ein kleines, verängstigtes Mädchen. Sie konnte von einem Moment auf den anderen wie ausgetauscht sein, mal vor Freude und Kraft strotzend, dann in sich gekehrt und ruhig. Eigentlich könne man daraus nur einen Schluss ziehen, nämlich dass sie Dreamchipperin war, eine von Emotionsprogrammen abhängige BTL-Süchtige. Allerdings glaubte Tellin, dass sie inzwischen clean war. Warum sie im Underworld ´93 auftrat und nicht im Drome? Weil sie ihren ersten Auftritt hier hatte und ihre alten Freunde, die ihr beim Start geholfen hatten, nicht vergaß, und wenn sie noch so viel Kohle hätte machen können.

13.06.2052

U

m 2.00 am standen Willy, Ininvisible und ich dann vor der Garderobe, wo ein unfreundlicher Zwerg uns zu Max Foley einließ. Er war ein fetter Mann in mittlerem Alter, ziemlich unsympathisch aussehend. Er fühlte Maria und sich durch Hernandez bedroht, der die Konzession für Marias Management wieder zurück wollte. „Rein rechtlich gesehen ist er bis zum 18.06. um 0.00 am ihr Manager. Dann erst löst sich ihr Vertrag, nicht wahr? Solange aber kann Armando alles tun, um sich Maria zurückzuholen, versteht ihr? Nach Ablauf dieser Frist bin ich ihr Manager und was auch immer er unternimmt, ich kann ihm die LoneStar-Cops auf den Hals hetzen. Bis dahin aber brauchen wir Schutz.“ Gerade in diesem Augenblick kam Maria von ihrem Auftritt in die Garderobe. Eine strahlende Erscheinung in Silber mit einem perfekten Körper und einer Aura wie einer lauernden Wildkatze. Sämtliche Alarmglocken schellten bei mir und ich konnte kein Wort herausbringen. Vielmehr fielen mir und Willy einfach nur die Kinnlade herunter. So viel Sex, wie sie ausstrahlte, konnte eine ganze Armee nicht verkraften. Mir zitterten die Knie und ich hatte Mühe, mich unter Kontrolle zu halten. Max stellte uns vor, Maria nickte uns freundlich zu und bequemte sich unter die Dusche. Schade, dass diese sich im Nebenzimmer befand. Nach kurzer Zeit tauchte sie wieder auf und gesellte sich zu uns. Irgendwie sah sie ganz anders aus als noch vorhin. Ihre Züge waren nach wie vor wunderschön, aber sie hatte ihren Mantel aus sexueller Geladenheit abgelegt. Sonst wäre es auch schwierig gewesen, ihr gegenüber zu sitzen und sich mit ihr zu unterhalten.

Anscheinend bedauerte sie ihre Trennung von Hernandez, aber mit jemandem, der in das Dream-chipping-Geschäft verwickelt war und Verbindungen zur Yakuza hatte, wie sie vor kurzem herausgefunden hatte, wollte sie nichts zu tun haben. Ein Freund von ihr war durch BTL's ums Leben gekommen. Nur verständlich, dass sie abhaute, würde ich sagen. „Dabei habe ich gerne mit Armando zusammengearbeitet,“ sagte sie traurig. „So gerne, dass, wenn er mich auch nur andeutungsweise gefragt hätte, ob wir beide zusammen... ich hätte nicht nein gesagt. Wie man sich doch in einem Menschen täuschen kann.“ Ich wollte gerade ansetzen und sie nach ihrer eigenen BTL-Abhängigkeit fragen, weil ich mir in der Zwischenzeit eine geschickte Formulierung überlegt hatte, mit der ich ihr nicht zu nahe treten würde, als die Garderobentür aufflog.

Zwei Riesenkerle, deren Augen rot von irgendeiner Droge leuchteten, stürmten herein und überraschten uns völlig. Uns alle bis auf Willy. Seine Reflexbooster schalteten sich ein und noch bevor einer der beiden auch nur anhob zu feuern - denn das war offensichtlich mit ihrer schweren Bewaffnung - hatte Willy sie mit vier gezielten Schüssen aus seiner Ares Predator auch schon umgesäbelt. Ich hatte mich zusammen mit Maria zu Boden geworfen und hörte noch gerade, wie Willy uns zurief: „Da draußen ist noch einer!“ als er auch schon aus dem Zimmer lief und weitere Schüsse abfeuerte. In dem Moment erlebte ich so etwas wie einen Adrenalinschub. Innerhalb eines Sekundenbruchteils stellte ich fest, dass die unmittelbare Gefahr für Maria beseitigt war, ließ sie los, schnellte auf die Füße und lief ebenfalls nach draußen. Dort sah ich Willy, wie er sich gerade eine Salve aus einem böse aussehenden Sturmgewehr einfing. Ein weiterer Samurai mit rötlich verfärbten Augen stand vor uns und ließ eine zweite Salve auf Willy ab, eine Zehntelsekunde bevor ich ihn mit einem Manageschoss, das mächtiger war als alles, was ich zuvor jemals abgelassen hatte, förmlich von innen heraus platzen ließ. Feige Assassinen, die meine Freunde anschießen, lassen mich manchmal vergessen, dass ich eigentlich nicht töten will. Als der Körper zu Boden sank, sah ich, wie schlimm es Willy erwischt hatte. Er war ins Bein und in die Brust getroffen worden und hielt sich so gerade eben auf den Beinen. Ich half ihm zurück in den Garderobenraum und setzte ihn an die Wand. Die Assassinen hatten saubere Arbeit geliefert, bis sie zu uns kamen. Mehrere Bühnenarbeiter, die eben noch schwatzend und lebendig im Flur gestanden hatten, lagen blutend am Boden. Ich askennte die Killer und stellte fest, dass in einem von ihnen noch ein Hauch Leben war. Ich beugte mich gerade zu ihm herunter und verpasste ihm ein Traumapatch, als sich schwere, stampfende Schritte näherten. Es war der Troll vom Eingang, vor Aufregung schwitzend. „Haufenweise stinkender Drek!“ brüllte er. „Ihr Chummers schwirrt am besten turbomäßig ab, denn hier leuchten überall die Sterne und die Bullen sind das Letzte, worauf wir im Underworld Bock haben. Vorne isses zu hell für Schatten, aber hinten is im Moment noch alles clean. Los, worauf wartet ihr noch, bewegt eure Ärsche, O.K.?“ Hinter ihm tauchte eine kleine Gestalt auf. Es war Tellin, der im Vergleich zum Troll geradezu verschwand. „Was er damit sagen will, ist folgendes: Liebe Güte, was für ein unglücklicher Zwischenfall. Ihr Jungs brecht besser rasch auf, denn die Agenten von LoneStar Security sind in hoher Zahl angerückt und das Underworld ´93 hätte es lieber, wenn hier keine offizielle Untersuchung stattfindet. Die Vorderseite des Clubs wird zu stark patrouilliert, als dass man noch heimlich herauskäme, aber der Hintereingang ist im Moment noch unbeobachtet. Kommt schon, warum zögert ihr, seid bitte so nett und beeilt euch!“

Daran hatte ich jetzt gar nicht gedacht. Wir beeilten uns also, schnell aus dem Gebäude zu entkommen. Willy hatte seinen Wagen direkt am Hintereingang geparkt, als ob er geahnt hätte, was passieren würde. Leider war der Eurocar Westwind 2000 ein Zweisitzer, und da wir mit Maria und Max zu fünft waren, musste Ininvisible ihre Daimler-Limo holen. In der Zwischenzeit sah ich mich unsichtbar im U´93 um. Die Cops waren fast überall und schirmten die Leichen der Killer ab. Leider nirgendwo ein Doc in der Nähe, der sich um den noch lebendigen Assassinen gekümmert hätte. Ich wusste, dass mich Mr. T, der Troll, sehen konnte, da er auch den infraroten Bereich des Lichtes erkennen konnte, daher zog ich ihn aus seiner Unterhaltung mit einem Officer und teilte ihm auf den Toiletten mit, dass einer der Killer zur Informationsentnahme überleben müsste. „Die Cops kümmern sich um alles. Jede halbe Stunde müsste ein Doc kommen.“ „Jede halbe Stunde?! Dann hat er nichts mehr, was eine Rettung lohnen würde!“ Ich verschwand und setzte mich zu dem auf der Schwelle des Todes stehenden Killer, mitten zwischen alle Bullen. Leider würde die magische Behandlung schwierig werden, da ich mich gleichzeitig auf meinen Unsichtbarkeitszauber konzentrieren musste. Ich versuchte es trotzdem. Leider mit nur wenig Erfolg, aber immerhin besser als nichts. Fast zwanzig Minuten muss es gedauert haben und ich war total erschöpft. Hoffentlich hatte ich dem nun eintreffenden Doc keine Probleme bereitet, aber wenn ich nichts gemacht hätte, wäre der Killer vielleicht schon tot.

Ich verließ den Raum und quetschte mich schleichend zwischen zwei Türwachen nach draußen auf den Hinterhof. Die anderen waren natürlich schon über alle Berge. Ich lief eine halbe Meile vom Zentrum des Tumults weg und ließ mich in einem dunklen Hauseingang wieder sichtbar werden. Dann funkte ich Ininvisible an und verabredete mich mit ihnen in Willies Wohnung im Redmond. Anschließend callte ich Alec an, den Straßendoc. Verschlafen meldete er sich und erklärte sich bereit, Willy zu helfen. Mit einem Taxi holte ich ihn ab und er stürzte den Kaffee herunter, den ich dem Taxifahrer abgekauft hatte. Bei Willy schließlich war er dann doch halbwegs wach, so dass er sogleich mit der Behandlung beginnen konnte.

Maria saß aufgelöst in einer Ecke und hörte Musik über Kopfhörer, während Foley nervös hin und her lief, wild gestikulierte und Gott, die Welt und uns verfluchte, weil wir nichts unternahmen. Ich riet ihm, sich ruhig hinzusetzen und nicht so einen Trara zu veranstalten. Nach einer halben Minute lief er wieder hin und her. Plötzlich meldete sich meine Wristkom. Ich ging in den Nebenraum und nahm ab. Es war Fever. „Hast wohl ein ganz schönes Theater veranstaltet, Alter. Bist den Yaks auf die Füße getreten. Eure Ärsche sind 10000¥ wert. Ich an deiner Stelle würde die Kurve kratzen.“ Verdammt, hier wusste wohl jeder, dass ich vor drei Stunden einen Job angenommen hatte. Vertrackte Situation. Ich würde Fever, nachdem alles vorbei war, einen Besuch abstatten und ihm für die Warnung danken. Jetzt erst einmal musste ich zusehen, dass wir die nächsten paar Stunden überlebten. Ich ging zurück und rief: „Kleine Änderung des Ablaufs. Wir fahren in der nächsten Viertelstunde los. Alec, wie lange brauchst du?“ „Ich bin sofort fertig. Es wird ihm gleich viel besser gehen.“ „O.k. Dann pack deine Sachen. Willy und komm nach draußen.“ „Moment noch.“ Er wandte sich an Marias Manager. „Max, Chummer, das wird dich was kosten. Der Preis für meinen Arsch ist gerade immens gestiegen.“ Das nannte ich Kaltschnäuzigkeit. Halb im Delirium fing Willy an zu handeln. Schließlich schaffte er es - nach fast keinem Widerstand von Max, für jeden von uns 6500¥ herauszuholen, plus sämtliche Spesen. Zusätzlich gab Max uns die Netzadresse von Armando Hernandez, der 180000¥ von ihm unterschlagen hatte. Er war bereit, einen Finderlohn von 10% für eine kleine Überweisungsaktion zu geben. Der Job war zwar immer noch tierisch unterbezahlt, aber langsam wurde es interessant. Vielleicht konnten wir den Preis bei der nächsten Katastrophe noch höher treiben.

Wir fuhren in Seattle herum, bis wir unter einer Brücke im Schatten halt machten, weil ich mich in den Astralraum begeben wollte. Nachdem ich meinen Körper abgestreift hatte, glitt ich durch das Leben Seattles hin. Als erstes schaute ich bei meiner Bude vorbei. Sie war schwer bewacht von vier Plastik-Samurais in meinen Polstermöbeln und zwei Yaks, die draußen patrouillierten. Klasse. Nicht dran zu denken, was es für eine Schießerei gegeben hätte, wenn ich meine Waffe hätte holen wollen. Bei Willy sah es ähnlich aus. Profis mit erstklassigen Waffen und Rüstung. Nach zwanzig Minuten war ich wieder im Wagen. „Mit heimwärts fahren ist nix,“ meinte ich. „Oder wir werden geröstet.“ „Ich kenne da jemanden, der uns helfen könnte,“ meinte Willy. „Ich hab´ dir schon von ihm erzählt, weißt du noch, neulich bei unserer Kneipentour. Er hat ein Haus in Seattle, in dem wir absolut sicher sind. Allerdings wird er uns keine fünf Tage beherbergen. Aber vielleicht hat er ein Versteck für uns.“ Ein Strohhalm, an den wir uns da klammerten, aber besser als nichts. Wir fuhren also hin, durch ein verslumtes Gebiet und in ein Villenviertel. Dort war seine Residenz: groß, wahrscheinlich erstklassig gesichert und teuer. Willy meinte, er sei ein Zauberer. Musste ein guter sein.

Als wir klingelten, öffnete uns ein Teenie mit wohlgeformten Proportionen und einem Gesicht, das Maria in nichts nachstand. Allerdings wirkte sie ganz anders. „Oh,“ meinte sie und gähnte wie ein Kätzchen. „Hi, Willy. Na, hast du wieder Schwierigkeiten? Alexej ist noch nicht wach.“ Na wenigstens eine, die noch nichts von unserem Job wusste. Wir stellten uns vor - was bei Maria nicht nötig war - und die Kleine - Nelly hieß sie - ließ uns ein. Willy erklärte unsere Lage und kurz darauf bekamen wir alle ein Bett, in dem wir unseren erschöpften Glieder zu Ruhe legen konnten. Nachdem ich Marias Zimmer überprüft hatte, legte ich mich hin und fiel sofort in einen traumlosen, tiefen Schlaf. Nach sechs Stunden - es war gerade 11.00am - wurde ich geweckt. Ich dachte zuerst, es sei vielleicht Nelly, aber leider war es nur Willy, der mich wachrüttelte - eine Viertelstunde zu früh. Wie auch immer, ich wusch und kleidete mich an. Anschließend stieß ich auf die anderen, die schon auf mich auf dem Flur warteten. Gerade war ich aus dem Zimmer getreten, als Nelly die Treppe hochkam. Sie hatte einen tief ausgeschnittenen Seidenkimono an, der durch eine Schärpe um die Hüfte gehalten wurde und mit einer orientalischen Drachenstickerei geschmückt war. Ihre Haare trug sie hochgesteckt, was ihre kleinen Ohren freiließ. Sie sah einfach hinreißend aus, geradezu zum Reinbeißen. „Einen wunderschönen guten Morgen wünsche ich“, sagte ich, da mir nichts besseres einfiel. Sie nahm es mit einem Kopfnicken zur Kenntnis und führte uns mit wiegenden Hüften nach unten. Wir hielten uns (sehr) dicht hinter ihr, erst ich, dann Willy, Maria, Max und Ininvisible. Unten im Speiseraum erwartete uns ein hochgewachsener Mann, der nicht viel älter als ich war und zur Begrüßung lächelte. Er holte Luft, um irgend etwas zu sagen, aber er kam nicht mehr dazu. Das Lächeln verging ihm, als hinter mir Ininvisible schrie: „Alexej, du Arsch!!!“ und ein Schuss knallte, abgefeuert aus ihrer Ares Predator. Die Kugel pfiff an meinem Kopf vorbei. Ich schnellte herum und warf mich auf Ininvisible. In Sekundenbruchteilen stellte ich fest, dass Nelly sie von hinten gepackt hatte, dass Maria und Max irgendwo in Deckung waren und Alexej sich hinter seinen Esszimmertisch geworfen hatte. Ich versuchte, Ininvisible die Kanone aus der Hand zu reißen und schrie dem desorientierten Willy zu: „Steh da nicht so ´rum! Hilf mir!“ Ein weiterer Schuss löste sich aus der Pistole und in meinem Schädel explodierte es. Plötzlich war alles still.

Ich stellte fest, dass mich der Schuss nur taub gemacht hatte. Kein Wunder, schließlich war er direkt neben meinem Ohr losgegangen. Glück gehabt. Ein paar Zentimeter weiter nach links und er hätte mir ein sauberes, siebeneinhalb Millimeter großes Loch durch meinen Schädel gepustet. Soviel zu meiner guten Chummerin Ininvisible. Aber es kam noch besser. Kaum hatte ich ihr zusammen mit Nelly die Waffe abgerungen, spürte ich das plötzliche Aufbrechen arkaner Macht in der Verrückten. Sie sprach einen verdammten Feuerball! Ich hatte nicht einmal die Zeit, die anderen mit meiner Macht zu schützen, als um uns die Welt in Flammen aufging.

Als ich meine Sinne wieder beisammen hatte, war das erste, was ich spürte, der stechende Schmerz meiner verbrannten Arme. Ein Schmerzensschrei entschlüpfte meiner Kehle. Ich sackte zusammen und schaute mich um. Das ehemals stilvoll dekorierte Esszimmer glich einem offenen Kamin, in den jemand Benzin gegossen hatte, um das Feuer zu schüren. Ininvisible lag am Boden, verbrannt in ihrem eigenen Inferno. Die anderen waren unversehrt, soweit ich sehen konnte - geradezu ein Wunder. „Sie lebt noch“, meinte Willy, und ich sah, dass sich Ininvisibles Oberkörper hob und senkte. „Ich hole ein Medkit“, sagte Nelly, und mit einem Seitenblick auf mich, „nein, besser wohl zwei.“ „Was ist hier überhaupt los?“ hörte ich mich fragen. „Sind denn auf einmal alle auf einem Trip? Ich finde das überhaupt gar nicht mehr witzig hier. Warum greift dich die Frau um Himmels Willen an, Alexej?“ „Man kann es ihr nicht verübeln. Lena hat eine schwere Zeit durchgemacht.“ „Eine schwere Zeit durchgemacht, was? Wer von uns hat das nicht? Wenn ich jedes Mal mit Feuerbällen durch die Gegend werfen würde, wenn... aargh, Drek!“ Ich hatte mich gerade wieder an meine verbrannten Arme erinnert. „Als ob wir nicht genug Schwierigkeiten hätten! Jetzt fängt diese durchgedrehte, verkabelte Decker-Rigger-Magierin auch noch an, Leute, die uns zum Teufel noch mal helfen wollen, mit Feuerbällen zu beschmeißen!“ Ich war vollkommen von der Rolle. Im Nachhinein glaube ich, dass ich wohl unter Schock gestanden haben muss. Es war alles ein bisschen viel auf einmal. Während ich mich von Willy verarzten ließ, fragte ich Alexej: „Du kennst ihren Namen, Chummer?“ „Ja, warum denn nicht?“ „Weil sie ein verdammtes Geheimnis daraus macht, deshalb. Uns hat sie sich als „die Undurchsichtige“ vorgestellt, aber wir haben sie Ininvisible getauft.“ „Lena, Lena“, meinte Alexej mit einem traurigen Blick auf die bewusstlose Frau, die von Nelly behandelt wurde. „Wie weit ist es mit dir gekommen?“ Nach etwa zwanzig Minuten waren meine Arme fein säuberlich mit Salbe bestrichen und mit Bandagen eingewickelt, und ich konzentrierte mich auf meinen Behandlungszauber. Es fiel mir leichter, mich vollständig zu heilen, als ich dachte. Was mich noch mehr überraschte, war die Tatsache, dass mir das gleiche noch einmal bei Lena „Ininvisible“ gelang. Sie hatte natürlich das Bewusstsein inzwischen wiedererlangt und verhielt sich ganz still. Ich redete ihr ins Gewissen, aber sie sagte kein Wort. Schließlich ließ ich von ihr ab. Es hatte überhaupt keinen Zweck. Vielleicht später.

Alexej überließ uns trotz dieses „kleinen“ Unfalls ein anscheinend gutes Versteck: eine Lagerhalle in der Nähe des Hafens, ein Versteck, das er sich irgendwann einmal gebaut und seitdem nie be-nutzt hatte. Nelly versorgte uns mit Vorräten, bevor wir losfuhren. Die Halle war wirklich groß, neun Meter in der Höhe und auf einer Fläche von über 150 qm. Wir parkten den Wagen gut versteckt in der Seiteneinfahrt und mein Magschlossknacker verschaffte uns Zutritt zu den Räumlichkeiten. Alexej hatte nämlich keinen Schlüssel mehr zu der Halle, Gott weiß wohin er den verlegt hatte. Wir richteten uns ein, so gut es ging, und dachten, dass wir ja einfach nur die Frist abzuwarten hätten, bis Max Marias offizieller Manager werden würde. Aber er machte uns einen Strich durch die Rechnung. Anscheinend hatte er inzwischen wieder Mut gefasst und konnte wieder Leute herumkommandieren. Er verlangte von uns, dass wir Armando Hernandez aufsuchen sollten, um ihm ein wenig auf die Finger zu klopfen. Weil wir uns ein wenig langweilten, erschien es uns auch als eine wirklich kurzweilige Idee. Zuerst allerdings kümmerten wir uns um das Geld von Max auf Hernandez´ Konto. Lena ging in die Matrix und nach kaum einer Stunde hatte sie das Geld auf Max´ Konto überwiesen und unseren Anteil sogar schon auf unsere Privatkonten abgezweigt. Sie war ziemlich erschöpft, und ich denke, dass sie mit einem besseren Cyberdeck wesentlich effektiver hätte agieren können. Wir würden das bei Gelegenheit in Angriff nehmen - nachdem ich mit ihr über ihr „kleines Problem“ mit Alexej geredet hatte. Nach dieser Aktion nahmen wir den Vorschlag von Max auf und fuhren zu Hernandez. Ininvisible Lena blieb allerdings zur Bewachung (und zur Strafe) bei den beiden.

Max gab uns die Adresse von Hernandez, und wir sahen uns bei ihm um. Ich erkundete sein Büro, Arbeitsräume und Aufnahmestudio im Astralraum - wie immer, wenn ich irgendwelche unbekannten Räumlichkeiten zum ersten Mal erforschte - und fand ihn auf einem Sofa liegend mit ziemlich viel Alkohol im Blut. Als wir schließlich auch körperlich bei ihm aufkreuzten, legte ich ihn schlafen, weil ich befürchtete, er würde im Suff Ärger machen. Wir interviewten ihn im fahrenden Wagen, mit einem kleinen Wenn-du-lügst-erkenne-ich-das-sofort-Zauber, und es stellte sich etwas wirklich erstaunliches heraus: er stand weder hinter den Yakuza-Angriffen, noch hatte er jemals Maria bedroht, er stand auch nicht mit irgendwelchen Chipgeschäften in Verbindung - er haderte sogar mit seinem Schicksal, weil er Maria verloren hatte und jetzt überhaupt nicht mehr wußte, was er tun sollte. Da hatte Max ja wohl voll in die Kacke gegriffen. Auf einmal war die Sache gar nicht mehr so klar, wie sie uns am Anfang erschien, der Kreis der Verdächtigen hatte sich gerade um den Faktor tausend vervielfacht. Vielleicht hing Max sogar in der Sache drin - schließlich hatte er immer auf Hernandez als Täter gepocht... Sicherheitshalber funkte ich Ininvisible an und warnte sie vor irgendeinem Verrat Max´. Sie wollte auf der Hut sein, sagte sie, und ihn keine Sekunde aus den Augen lassen. Da er gerade auf der Toilette war, fiel ihr das allerdings ein wenig schwer, schätzte ich. Willy fuhr mit Hernandez und mir zurück zu seinem Appartementstudio, weil er auf jeden Fall helfen wollte, Maria zu beschützen. Er zog gerade seine Pistole aus einer Schublade, als ich Lena erneut anfunkte, um ihr zu sagen, dass wir zurückkommen würden und Hernandez mitbrächten. Es meldete sich niemand, auch nach wiederholtem Wählen nicht. Es war also irgend etwas passiert. Armando drückte mir schnell noch eine kleine Pistole in die Hand, dann fuhren wir mit hoher Geschwindigkeit zurück zum Hafen.

14.06.2052

I

nzwischen war die Dämmerung der Dunkelheit der Nacht gewichen. Willy ließ den Motor ausgehen und löschte das Licht des Wagens, als wir noch vierzig Meter von der Halle entfernt waren. Leise rollte er bis zum dunkel gähnenden Eingang. Wir schlichen zur Tür - sie stand offen. Meine Optik schaltete sich ein und ich spähte durch die Düsternis der Halle, als wir eingetreten waren. Plötzliche flammte das Hallenlicht auf. Von hinten tönte es: „Halt! Keine Bewegung!“ Ich warf mich zu Boden und sprach einen Schlafzauber auf den Yakuza-Gangster, der mit seinem Chummer im Eingang stand. Bevor die beiden reagieren konnten, waren sie auch schon im Reich der Träume und fielen zu Boden. Ich richtete mich wider auf... und starrte in die Läufe von vier Gewehren, die allesamt auf mich gerichtet zu sein schienen. Oh Drek! Wäre ich mal in den Astralraum gegangen und hätte die Lage erkundet, wie ich es eigentlich sonst immer tat. „Mach das nie wieder!“ sagte eine weibliche Stimme, die von dem Fässerstapel in der Mitte der Halle kam. Auch das noch. Eine leibhaftige japanische Yakuza-Magierin mit Fetischen und allem, was dazugehörte. Ich ließ mir meine Verblüffung nicht anmerken und ließ meine Waffe fallen. „Wollen wir nicht irgend etwas unternehmen?“ fragte Armando. „Wenn dir was einfällt - ich bin für alle Vorschläge offen.“ erwiderte ich. „Willy?“ „Keine gute Idee, überhaupt keine gute Idee. Wir machen besser erst einmal gar nichts.“ sprach er und ließ seine Waffen fallen. Eigentlich auch nicht so übel. Die Yaks würden uns mit Sicherheit eine Menge Informationen geben, wenn wir es geschickt anstellten. Also spielten wir mit. Madame Sorcière kam auf mich zu, hob die Waffen auf und meinte: „Keine Tricks, Magier, oder du kannst deine Eingeweide im Fluß aufsammeln.“ Puuuh! So etwas beeindruckte mich wirklich. Ich hatte schon eine bissige Antwort auf den Lippen, etwas wie: „Magst du Sex mit Leder und viel Schmerz, Miss Domina?“ - was mich zweifelsohne ein lebenswichtiges Körperteil gekostet hätte - da sah ich Ininvisible Lena und Maria von Yaks umringt auf der Polstergarnitur der Halle sitzen. Max stand relativ unbehelligt an der Wand gelehnt. Wahrscheinlich hatte er sie hereingelassen und mitgeholfen, die anderen zu schnappen. Wir wurden zu der Sitzgruppe geführt und Maria stand auf. „Dürfte ich Euren Namen erfahren, edle Lady?“ wandte ich mich an die Anführerin. Ich machte eine nicht einmal spöttisch wirkende Verbeugung und warf meine rechte Hand schwungvoll nach hinten, so als ob ich mir gerade meinen Hut mit Straußenfedern abgenommen hätte und eine Dame ehrerbietig grüßte - ganz so wie in den alten Mantel-und-Degen-Filmen. „Mein Name ist Magnus, auch Mag genannt.“ „Ich weiß“, erwiderte sie und sagte dann: „Mein Name ist Sumiko.“ „Sumiko-san, was habt ihr nun mit uns vor?“ fragte ich. „Mal sehen.“ meinte sie. „Vielleicht töte ich euch; vielleicht lasse ich euch am Leben.“ Typisch Frau - kann sich mal wieder nicht entscheiden. Sie kramte irgend etwas aus ihrer Tasche hervor und hielt es vor Marias Nase. „Schau mal,“ sagte sie, „eigentlich sind wir ja deine Freunde.“ Es war ein Simsinn-Gerät, wahrscheinlich mit einem ultra-abhängig machenden Dreamchip darin. Maria starrte wie gebannt darauf. Ich beschloss zu handeln und drang in ihren Geist ein, ließ sie Abscheu vor diesem Gerät verspüren und sagen: „Leck mich am Arsch und verschwinde mit dem Ding!“ Die Magierin drehte sich zu mir um und sagte: „Ich habe gesagt: keine Tricks!“ Dann spürte ich, wie sie einen Manablitz auf mich warf. Ich widerstand dem Zauber mit all meiner Macht und wurde glücklicherweise nur leicht verletzt. Mit zusammengebissenen Zähnen quetschte ich hervor: „Ihr versteht, Lady, dass ich das nicht zulassen kann.“ Aber leider hatte ich meinen Zauber fallen lassen müssen, um ihrem Zauber besser widerstehen zu können, und musste nun hilflos mit ansehen, wie Maria in ihren Untergang getrieben würde. Triumphierend wandte sich Sumiko an Maria und hielt ihr das Dreamchip-Gerät noch dichter unter die Nase. Maria starrte gebannt darauf, stolperte einen Schritt auf Sumiko zu und... schnappte sich zu unser aller Überraschung Sumikos Ares Predator aus dem Halfter. Bevor irgend jemand anders reagieren konnte, war Willy schon reflexboosterweise unterwegs und rang mit einem der Yaks um seine Waffe. Aber auch die Magierin erholte sich schnell von ihrer Überraschung und schleuderte einen weiteren Manablitz nach mir. Wieder entging ich nur mit aller Kraft größerem Schaden. Um so heftiger fiel meine Antwort aus: ich legte all das, was von meiner Macht übriggeblieben war, in einen Manapfeil und schoss damit auf Miss Magic-san. Sofort bereute ich meine Tat. Sumiko stieß einen Schrei aus und ich sah, wie sie von der Kraft des Spruches zurückgeworfen wurde und zu Boden fiel, bewusstlos oder viel wahrscheinlicher, tot. Wieder einmal hatte ich die Kraft dieses Zaubers unterschätzt, wie schon gestern bei diesem Assassinen in Marias Garderobe. Der Kampf um mich tobte und wogte hin und her, ich schmiss ein paar Schlafzauber nach den übrigen Yakuza, Willy war irgendwie an die Ares Predator gekommen und ballerte um sich, Hernandez wurde von einem tödlichen Streich mit einem Katana zu Boden geschickt, Lena hatte sich eine Monofilamentpeitsche von der Magierin organisiert (hatte sie wieder einmal mehr gesehen als ich), schlug nach einem der Yakuza und plötzlich war alles vorbei. Die Yaks lagen allesamt am Boden, außerdem Armando. Ich hetzte zu ihm hin und drückte ihm ein Traumapatch (mein letztes) auf die Stelle über seinem Herzen und wies die anderen an, unsere Medkits zu benutzen. Ich funkte Alec McGriffin an. Er war natürlich schon wieder im Bett und ich hatte ihn aus seinen schönsten Träumen geholt. „Herr Magnus sagt hüh, und ich springe, was?“ „Es ist wirklich sehr wichtig, Alec, wir haben hier vier Schwerverletzte, die´s ohne dich nicht schaffen. Warte, ich gebe dir die Adresse.“ Natürlich erklärte er sich bereit zu kommen, aber erst, nachdem ich ihm versichert hatte, dass ich ihm den doppelten Tarif zahlen würde.

Wir hatten gerade einige der Leute stabilisiert, da ertönte von draußen ein langgezogener Schrei: „Nein, nicht mich, ich bin in Ordnung, aaaaaaah!!!“ und ein Fauchen und Brüllen wie von einem großen Tier. Mit Lena und Willy lief ich zum Ausgang der Halle...

Draußen sah ich einen völlig verkohlten Leichnam liegen, der an einigen Stellen noch glühte und brutzelte. An den geschmolzenen Massen von Goldschmuck erkannte ich, dass es sich nur um Max Foley handeln konnte. Weitaus schrecklicher als dieser war aber der Anblick, der sich mir bot, als ich nach oben schaute, auf das Dach der Halle. Dort saß ein leibhaftiger Drache, der in der Glut seines eigenen Feuers, das er auf das Dach niederströmen ließ, leuchtete. Einen Moment lang war ich stumm vor Schreck. Dann rief ich: „Los, holt die anderen aus der Halle!“ Der riesenhafte Drache begann seelenruhig damit, mit seinen Pranken das Dach aufzureißen. Innen musste die Hölle los sein. Ich wandte krampfhaft meinen Blick von dem Ungetüm fort und bemerkte zwei Schatten, die irgendwo in der Nähe herumliefen. Es waren Alexej und Nelly! Alexej war wie versteinert und hing schwebend in der Luft. Er sah aus, als ob er mitten im Lauf eingefroren worden war. „Was ist mit ihm los?“ schrie ich über dem Getöse des Drachen zu Nelly herüber. „Es wird noch eine Weile dauern,“ rief sie zurück. „Zwei Minuten etwa. Wo sind die anderen?“ „Da kommen sie! Fahr mit ihnen los, ich kümmere mich um Alexej. Ja, ich warte bestimmt auf ihn, nun geh´ schon!“ Sie holte ihren Wagen und fuhr mit Maria, Armando und Ininvisible los. Ob Armando noch lebte, konnte ich nicht sagen. Außerdem machte ich mir Vorwürfe, dass ich der Magierin so schweren Schaden zugefügt hatte. Die war nämlich zusammen mit ihren Gefährten unrettbar in der einstürzenden Lagerhalle verloren. Ich konnte nichts mehr für sie tun. Der Drache versetzte dem Gebäude einen letzten Schlag und einen Stoß seines infernalen Atems, dann stürzte es vollkommen in sich zusammen. Er beachtete uns gar nicht weiter, sondern flog einfach davon. Mit eleganten Flügelschlägen, was bei seiner Körpermasse ein mittleres Wunder darstellte, entschwebte er unseren Blicken. Just in diesem Moment fiel Alexej nach vorne, rollte sich ab und sprang auf die Füße. „Ist der Drache schon weg?“ fragte er. „Wo sind die anderen?!“ „Die anderen sind schon unterwegs. Wir machen besser auch, dass wir verschwinden.“ Ich hörte in der Ferne schon Sirenengeheul von Einsatz-Löschfahrzeugen und LoneStar-Security.

Bald waren wir weit entfernt von jeglicher Aktivität, abgesehen einmal von dem ganz normalen Nachtverkehr. Mir fiel Alec ein und ich funkte ihn an. „Einsatz abgeblasen? Was soll das heißen? Ich bin deinetwegen mitten in der Nacht unterwegs in einem Taxi und du sagst einfach `Falscher Alarm`? Das wird dich einiges kosten, das verspreche ich dir!“

Ups. Der war ganz schön geladen. Na ja, er würde es verstehen. Außerdem hatte ich gerade andere Sorgen als die kurze Grünphase eines Straßendocs. Wir sprachen uns mit den anderen ab (Alexej hatte wohl eine psychische Verbindung zu Nelly aufgebaut) und trafen uns nach zwanzig Minuten an einer Straßenecke. Nelly fuhr mit Armando ins Krankenhaus und wir anderen schnurstracks zu meiner Halle, in der ich meine Zauberrituale auszuführen pflegte. Dort richteten wir uns ein und diskutierten unsere Situation. Ininvisible klinkte sich in die Matrix ein und fand allerlei heraus über die Yakuza, Max´ und Armandos Rolle in der Geschichte und über Sumiko, die Magierin. Wie es aussah, stand diese nämlich hinter der Hatz auf uns. Natürlich fiel uns etwas ein: Nelly sollte in Runnerkreisen verbreiten, dass die Person, die auf unseren Kopf eine Belohnung ausgesetzt hatte, in dem Brand am Hafen umgekommen war und dementsprechend Essig mit dem Kopfgeld war. Das würde, bis es sich herumgesprochen hatte, wahrscheinlich einen Tag in Anspruch nehmen. Dann würden wir uns wieder auf die Straße wagen können.

Erschöpft fielen alle in Schlaf. Alexej und ich übernahmen die erste Wache und diskutierten sein plötzliches Erscheinen vor der Halle. Anscheinend hatte er Wind von einem Überfall auf uns bekommen und wollte uns zu Hilfe eilen. Als ich ihn allerdings fragte, was sein seltsamer Zustand zu bedeuten hatte, als wir ihn fanden, meinte er nur, dass mich das nichts angehe. Irgendwann würde er mich schon aufklären. Unser Gesprächsthema schwang schnell um auf die Magie, in deren Ausübung er ein Meister sein musste, denn ich konnte auch nicht den Hauch einer Aura bei ihm spüren. Er schien ein ganz normaler Mann zu sein. Ich sprach ihn darauf an und es stellte sich heraus, dass er Mitglied einer initiatorischen Gesellschaft war. Diese schien in ihren Moralvorstellungen sehr human und freundlich gegenüber allen Lebewesen zu sein. Sie hatte sich zum Ziel gesetzt, die Magie der Welt zu erforschen und vor allem neue Sprüche zu entwickeln. Er erzählte mir von einem ihrer Schamanen, der jegliche Flüssigkeit in Bier verwandeln konnte. Ich lächelte bei dem Gedanken an die Feier, die es gegeben haben musste, als er mit diesem Zauber um die Ecke kam. Alexej wusste nicht, ob der Schamane am Ende erschöpft vom vielen Bier oder von seiner Zauberei gewesen war. Auf jeden Fall sei er besinnungslos umgefallen. Über den Sinn oder Unsinn, Bier mittels Magie zu brauen, wollte er gar nicht diskutieren. Es ging um die reine astrale Kraft, die notwendig sei für eine Molekültransformation. Selbstverständlich hätte man auch etwas augenscheinlich Nützlicheres mit dem Zauber machen können, aber so etwas sei ja bekanntlich ein zweischneidiges Schwert.

Der magische Zirkel hätte sich vor allem zwei Hauptbestimmungen gesetzt: Mitgliedern sei es verboten, Wetwork zu machen ( also einen Tötungsauftrag anzunehmen) und sie müssten auch magisches Leben achten und schützen, sei es beschworener Geist oder Watcher. Mir war dieser Gedanke sehr sympathisch. Ich freute mich, endlich einen Kreis gleichgesinnter Magier zu treffen, dem ich mich anschließen konnte. Wir diskutierten noch lange Zeit weiter, und irgendwann ging auch ich zu Bett.

15.06.2052

A

m nächsten Morgen schickten wir Alexej erst einmal zum Einkaufen, weil ich überhaupt keine Vorräte gelagert hatte. Hätte auch nie gedacht, dass in meiner Beschwörungshalle einmal eine ganze Horde von Runnern Hunger bekäme. Ininvisible machte sich wieder auf in die Matrix und konnte die Telefonnummer, die angeblich Armando gehören sollte, auf ein kleines Büro in der Nähe von seinem zurückverfolgen. Außerdem besorgte sie das Geld des toten Max - schließlich konnte er uns nicht mehr bezahlen. Also nahmen wir uns unseren Teil und überwiesen dem unglücklichen Hernandez, der im Koma in der Klinik lag, 50.000¥. Er würde genug für seinen Krankenhausaufenthalt zahlen müssen. Außerdem standen Maria und er jetzt ziemlich mittellos da und eigentlich - doch darüber könne man streiten, meinte Willy, eigentlich gehörte das Geld ja ihm. Der Rest - immerhin 37.000¥ für jeden - wurde auf unseren Konten verbucht.

Ich verfolgte die Spur in diesem Büro und stellte magische Aktivitäten fest. Anscheinend war ein Wahrnehmungszauber von beträchtlicher Kraft in einem hermetischen Kreis eingesetzt worden. Wahrscheinlich hatte man uns so gefunden.

Aber das war eine Sackgasse. Die Magierin war tot, sehr zu meinem Leidwesen, aber es half ja alles nichts. Wir grübelten und rätselten den ganzen Tag herum, was als nächstes zu tun sei. Schließlich kamen wir darauf, dass wir bisher nur einen naheliegenden Grund für Marias Verfolgung gesucht hatten. Also begannen wir, ihr Fragen über ihre Vergangenheit zu stellen. Sie hatte in einem anrüchigen Etablissement in den Barrens gearbeitet, als Mädchen für alles. „Und wenn ich sage, alles, dann meine ich auch alles.“ sagte sie. Damals sei sie abhängig von den Chips gewesen, bis Armando sie fand und herausholte. Er musste sogar jemanden töten, um das zu bewerkstelligen. An die Zeit vor ihrer Abhängigkeit konnte sie sich nicht mehr erinnern. Typischer Fall von Verdrängung, würde ich sagen. Oder irgendwer hatte sie einer Hirnwäsche unterzogen, vielleicht waren auch die Drogen Schuld daran. Aber die Sache war klar: wir würden nur mehr über den Grund für die Hatz auf Maria erfahren, wenn wir in ihrer Vergangenheit forschten. „Sollte mich nicht wundern, wenn wir dabei auf irgendwelche dunklen Kon-Aktivitäten stoßen,“ meinte Ininvisible. „Wollen doch mal sehen, was ich alles so herauskitzele aus der Matrix.“

16.06.-18.06.2052

A

m nächsten Tag stießen wir auf weitere Hinweise, was Marias Vergangenheit betraf. Alexej und ich besuchten Marias Psychiater, um mehr Informationen über ihre Vergangenheit zu erfahren. Es kam eine ganze Menge ans Tageslicht. Zum Beispiel, dass ihre Cyberware keineswegs gewöhnlich war, sondern vielmehr speziell für sie angefertigt worden war.

Außerdem hatte jemand eine sehr heikle Verbindung in ihrem Hirn hergestellt, so dass sie leicht entweder extreme Lust oder extremen Schmerz empfand, falls man sie per SimSinn mit Gefühlseindrücken fütterte. Wahrscheinlich hatte sie deshalb diese Amnesie. Irgendein Perversling musste ihr übel mitgespielt haben.

 Lena leistete gute Arbeit in der Matrix und beschaffte uns wertvolle Informationen. Als sie einmal beinahe erwischt worden wäre, beschloss ich, sobald alles vorbei wäre, mit ihr einkaufen zu gehen, um endlich ein gescheites Cyberdeck zu erstehen. Wenn ich an Sharyl dachte, und mit welchem Material sie so gearbeitet hatte und jetzt im Vergleich Ininvisible sah, staunte ich über ihr Können. Sie hatte wahrscheinlich mehr Glück als Verstand.

Sie fand Infos, die darauf deuteten, dass New Horizons Developement, eine Firma, die in den Barrens (!) angesiedelt war, ebenfalls ihre Finger im Spiel hatte. Das war auch die Quelle gewesen, von der Alexej die Information bekommen hatte, dass ein Überfall auf uns geplant war. Die Matrix enthielt keine Informationen über diese Firma, das einzige, was auffindbar war, war ein blaues Netz, in das selbst ich hätte eindringen können, und das wirklich keine einzige Information beinhaltete. Wahrscheinlich ein Scheinmainframe.

Wir gingen auch der Spur nach, die uns von der Ärztin gegeben worden war. Alec untersuchte Marias Implantate und brachte uns einen Namen: Sorayama, ein Mann, der Marias silberne Arme und Beine gemacht hatte, vielleicht mehr als nur das. Wir schalteten sämtliche Connections ein und schließlich erfuhren wir durch Alecs Beziehungen, dass Sorayama Menschen zu Kunstobjekten stilisierte, meist im Auftrag irgendeines Konzernbosses. Ein Ausnahmekünstler, der völlig skrupellos mit seinen „Objekten“ umging. In der Zeit damals hatte er für einen Aztech-Boss gearbeitet. Alec besorgte uns ebenfalls seine Systemadresse. Dort erfuhr Lena alles über den Typ und seine Machenschaften. Maria hatte anscheinend einen Vertrag mit Aztech gehabt und sich ihre Cyberimplantate mehr oder minder freiwillig einsetzen lassen. Wir fanden auch Hinweise in seinem Tätigkeitsbericht, die auf diese heikle Dataverbindung in ihrem Hirn deuteten. Außerdem etwas über eine Speichereinheit, die ihr implantiert worden war und auf welcher all die Jahre Informationen versteckt gelegen hatten. Man benötigte allerdings ein bestimmtes Passwort, um Zugriff darauf zu erhalten. Am Schluss fand Ininvisible noch einen zwei Monate alten Eintrag, der auf einen Mitarbeiter der Perfekto-Kon stoßen, einer Tochtergesellschaft von Aztech. Unter dessen Systemadresse fand sie nun endlich des Rätsels Lösung: der Kon wollte Datenmaterial wiederbeschafft haben, nämlich jenes, das in Marias Hirn gespeichert war. Es ging dabei um irgendeine Giftmüll-Sache. Der Kon hatte eine spezielle Eingreiftruppe zusammengestellt, die sich Drachenritter nannten und deren Anführer ein Typ namens Kyle Morgan war. In dieser Gruppe war auch ein walisischer Drache, wahrscheinlich eben der, der uns alle beinahe zu Toast verarbeitet hätte. Neben ein paar anderen Mitgliedern fanden wir auch einen Zwergen, dessen Loyalität in Frage gestellt wurde und der mitsamt seiner Familie nach Beendigung des Auftrags eliminiert werden sollte. Seine Loyalität wurde deshalb als fraglich eingestuft, weil seine Frau bei dieser Giftmüll-Sache in den Barrens ums Leben gekommen war und man befürchtete, er könne das Projekt irgendwie sabotieren. Und - last but not least - erschien auch das Passwort für Marias Geheimdaten.

Aufgeregt stöpselte Lena einen Datenleser in Marias I/O-Port ein und gab den Code an. Es folgten detaillierte Berichte über die Endlagerung von toxischem Müll, genau dort in den Barrens, wo später Tausende von Arbeitern wohnten. Fälle von schweren Vergiftungen, die vertuscht wurden, Dutzende von schmutzigen Methoden, um die Leute zum Stillschweigen zu bringen, damit nichts davon bekannt würde, etc. Wir hatten es gepackt. Diese Sache war der Schlüssel zum ganzen. Die Yakuza hing übrigens als New Horizons Developements, eine Scheinfirma also, mit drin, weil sie Wind von der Sache bekommen hatte und nun einen günstigen Weg sah, Aztech zu erpressen.

Nun überlegten wir, wie wir die Gefahr von Maria abwenden konnten. Willy machte den Vorschlag, dass wir einfach die Daten an ein schwarzes Brett der Matrix hängen sollten, damit die Öffentlichkeit davon erfuhr. Das war eine gute Idee, aber noch besser erschien es uns, Aztech einen Denkzettel zu verpassen und Greenwar vor allen anderen davon zu informieren. Die radikalen Öko-Terroristen würden keinen Stein auf dem anderen lassen, wenn sie von der Schweinerei erfuhren. Wir spielten ihnen sämtliche notwendigen Informationen und die Namen der Verantwortlichen zu, die jener Drachenrittern nämlich, und hofften, dass das reichen würde. Außerdem ging ein sehr persönlicher - und sehr anonymer - Brief an unsere hochgeschätzte Gouverneurin, in dem sie alle Einzelheiten nachlesen konnte, versehen mit einem persönlichen - und sehr anonymen - Gruß von mir. Natürlich machten wir die Dateien einige Zeit später auch der Öffentlichkeit publik. Auch ließen wir dem rachsüchtigen Zwerg eine Warnung zukommen, die nicht mehr ganz so anonym war, sie stammte nämlich direkt von mir; er sollte ruhig wissen, wer ihm denn da jetzt Gutes tat - vielleicht konnte man diese Gefälligkeit eines Tages verwerten. Im übrigen stattete ich Armando noch einen Besuch ab und heilte ihn von seinen schwersten Wun-den, so dass er schon mal aus dem Koma erwachte. Zwar war er immer noch sehr schwach, aber er würde es unbeschadet überstehen. Schließlich lag er in einem der besten Krankenhäuser Seattles und konnte außerdem bald wieder von seiner großen Liebe Maria umsorgt werden - seufz. Nicht jeder hatte es so gut (obwohl ich niemals mit ihm getauscht hätte).

Wir verabschiedeten uns voneinander, als es dem Ende zuging. Inzwischen hatten wir uns richtig in meiner Halle einquartiert und aneinander gewöhnt, so dass es mir ein wenig schwerfiel. Aber schließlich besaß jeder von uns eine Wohnung, die vor kurzem noch mit Yakuza gespickt gewesen war. Na warte, wenn die etwas mitgehen lassen hatten, würde ich dem Oyabun die Hölle heiß machen, darauf konnte er Gift nehmen, und wenn ich Murphy von seiner Insel holen müsste.

Maria schenkte uns als persönliches Dankeschön jeweils eine von ihr signierte CD, da sie momentan mittellos war und das als kleines Dankeschön und Erinnerung ansah. Ich fragte mich, was sie wohl auf dem Shadowmarket wert sein würde. Willy natürlich war hellauf begeistert und stürzte sich in eine tagelang andauernde Masche, nämlich indem er jegliches Gespräch, so es denn eins gab, als erstes auf unser Abenteuer mit Maria lenkte. Aber ich würde ihn bald damit über-raschen, dass ich zwei neue Karten für Hitamoto Sulus Mozart-Interpretationen hatte. Nein, um den Teil unseres Handels, den wir vor ach so langer Zeit (immerhin sechs Tagen) gemacht hatten, würde er mich nicht betrügen!

Was ich mir noch vornahm, waren zweierlei Dinge: ich würde mit Ininvisible einkaufen gehen (und ihr einen großzügigen Kredit gewähren), außerdem mit ihr über ihr „Problemchen“ mit Alexej reden. Und, sehr wichtig, ich würde mit Alexej und Nelly lange Gespräche führen, um mehr über ihren magischen Zirkel zu erfahren und mich ihm dann wahrscheinlich anschließen. Ich wusste eigentlich so gut wie nichts über ihren Initiatenkreis. Gut, die Ziele hatte mir Alexej aufgezeigt, und einige der Bestimmungen. Die Mitglieder waren über die ganze Welt verstreut und ihre Zahl war irgend etwas um ein Dutzend. Aber ich wollte mehr wissen. Wer waren die Mitglieder? Hatte man einen festen Versammlungsort und wenn, wie sah der aus? Wurden Beiträge gezahlt oder hatten sie einen Gönner? Wie hielten sie Kontakt und so weiter, und so weiter.

19.06.2052

S

haryl ist wieder da! Sie kam mitten in der Nacht und sah fürchterlich aus. Anscheinend hatte sie eine Auseinandersetzung in der Matrix nur knapp überlebt, aber sie wollte nicht mit mir darüber reden. „Ich will dich nicht damit hineinziehen,“ meinte sie nur. „Es ist schlimm genug, dass ich drin stecke.“ Ich half ihr, so gut ich konnte, heilte die schlimmsten ihrer anscheinend inneren Verletzungen und sie fiel kaum, dass sie sich auf ihr Bett legte, in tiefen Schlaf. Ich zog sie aus und machte es ihr bequem, deckte sie zu und löschte das Licht. Heute Nacht würde ich aufpassen und nur mit einem Auge schlafen. Es konnte ja sein, dass ihre Verwicklung in diese ominöse Geschichte irgend jemanden überreagieren ließ.

Ich schlief nicht sehr gut, und so bereitete es mir keine Probleme, früh aufzustehen und ein ausgezeichnetes Frühstück mit Soykaf und Soysemmeln zuzubereiten. Ich ging am Terminal die neuesten Meldungen durch, um mir die Zeit zu vertreiben, bis Sharyl ausgeschlafen hatte. Gegen 10.00h stand sie auf. „Du hast mich schlafen lassen?“ meinte sie. „Du sahst müde aus. Warte, ich setze neuen Kaffee auf.“ erwiderte ich. Während der Kaffee durchlief (ich war kein Fan von den ultramodernen Kaf-Maschinen, die dehydrierten Extrakt verwendeten) duschte sie und sang dabei - wie konnte es anders sein - einen Song von Mercurial. Mit einem Handtuch um ihren Kopf und um sich selbst geschlungen setzte sie sich zu mir an den Tisch. „Und, hast du die Sache mit deinem Bruder überstanden?“ fragte ich sie. Sie nickte, ihr Brötchen mümmelnd. „Die Geschichte ist erledigt, hoffe ich. War auch anstrengend genug.“ Ich erzählte ihr von meinen Erlebnissen, seitdem ich sie nicht mehr gesehen hatte, besonders natürlich von der Mercurial-Affäre. „Ja, das habe ich mit-bekommen,“ meinte sie. „Ihr habt ein ganz schönes Aufsehen um diesen Giftskandal gemacht, aber ich hatte keine Zeit, zurückzuverfolgen, von wem die Nachricht stammte. Gutes Decking, würde ich aber sagen, nach allem zu urteilen, was du mir erzählt hast.“ „Es wäre noch viel besser gewesen, wenn Lena ein vernünftiges Deck gehabt hätte. Sie schrappt im Moment mit irgendeinem Schmalspur-Teil und Babyprogrammen in der Matrix herum. Da sie keine Kohle für ein neues Deck hat, wollte ich sowieso einmal mit ihr einkaufen gehen. Da kommt mir eine Idee: könntest du nicht ein Deck zusammenstellen? Mit deinen Connections kommen wir doch mit Sicherheit günstiger an die Ware.“ Sie fragte mich nach der Art des Decks, vor allem, wie viel es denn kosten durfte. High-Tech-Klamotten waren teuer, das wurde mir bald klar. Und ich dachte, magische Ausrüstungsgegenstände seien schon in der gehobenen Preisklasse! Aber wenn man sah, dass allein ein vernünftiges Analyse-Programm schon 15.000¥ verschlang, von den diversen Täuschungs- und Tarnprogrammen mal ganz abgesehen, konnte man sich vorstellen, welche Investition ein Cyberdeck darstellte. Ich konnte mich nach einigem hin und her mit Sharyl für ein Deck für ca. 300.000¥ entscheiden, inklusive aller Programme. Ungefähr 10% des Kaufpreises sollte Lena selbst bezahlen, die restlichen 90% würde ich ihr vorstrecken. Hoffentlich war sie einverstanden mit meiner Vorgehensweise. Bei ihr wusste man schließlich nie, wann sie mit Feuerbällen nach einem warf.

Daher nahm sofort ein paar dringende Telefonate vor, angefangen mit ihrem. Sie meldete sich gleich und war natürlich hoch erfreut über mein Angebot (nie hatte ich es bezweifelt); ihr Lächeln, das ich so lange hatte vermissen müssen, kehrte auf ihr Gesicht zurück, und es war das erste Mal, seitdem ich sie kannte, so richtig warm und freundlich. Wir verabredeten uns für heute abend um 6.00 pm im „Matchstick“, um alle Einzelheiten zusammen mit Sharyl zu besprechen. Anschließend kontaktierte ich Alexej und diskutierte mit ihm ein paar Minuten über meinen Beitritt zu dem Zirkel der Initiaten. Da ich sowieso schon halb entschlossen war, ja zu sagen, kostete es mich kaum Überwindung, ihm fest zuzusagen. Der Zeitpunkt meiner feierlichen Aufnahme wurde auf den 21.06. festgesetzt, um 3.00 pm. Ich würde da sein.

Willy meldete sich nicht auf meinen Anruf, also beschloss ich nach dem Mittagessen, dass Sharyl und ich in einem kleinen Bistro zu uns nahmen, einmal bei ihm vorbeizusehen. Er war nicht zu Hause. Ich schlüpfte in den Astralraum, um dies zu überprüfen. Das erste, was ich in seiner Wohnung sah, war ein goldener Faden, der sich von mir aus in irgendeine Richtung spannte. Natürlich, mein Zauberspeicher! Ich hatte vergessen, dass Willy ihn immer noch trug. Ich hoffte, dass ihm nichts zugestoßen war. Wenigstens konnte ich ihn anhand dieses Ariadnefadens finden. Ich schoss mit wahnsinniger Geschwindigkeit an dem Faden entlang und stoppte, als er bei Willy endete. Er befand sich in einem Krankenhaus. Anscheinend ging es ihm nicht gut. Seine Aura war jedenfalls sehr geschwächt. Besorgt, aber glücklich, dass ich ihn gefunden hatte, nahm ich den Zauberspeicher von seinem Hals. Gut, dass ihn kein Weltlicher jemals sehen oder berühren konnte! Ich stellte kurz fest, in welcher Richtung das Krankenhaus von der Space-Needle ausgehend, die von jedem Punkt Seattles sichtbar war, lag und raste zu Sharyl zurück. Mit Hilfe des Autopiloten fanden wir das Hospital dann auch sehr schnell. Sharyl und ich fragten am Eingang nach Willy Gunware, aber die Schwester hatte keinerlei Infos über ihn. „Dann habe ich mich wohl im Krankenhaus geirrt, vielen Dank,“ sagte ich und wir gingen. Als wir wieder im Wagen waren, fragte ich Sharyl, ob sie in der Matrix in das Netz des Krankenhauses eindringen könnte, um die Zimmerbelegung festzustellen. Da dies mit ihrer Satellitenverbindung im Auto kein Problem zu sein schien, musste ich nur noch kurz im Astralraum feststellen, in welchem Raum Willy lag. Es war der 2. Stock, im 3. Zimmer von links. „Er wurde als `Bill Hero` eingeliefert,“ meinte Sharyl. „Na dann nichts wie los.“ Wir stiegen wieder aus und fragten die Schwester ein zweites Mal: „Tut uns leid, aber wir haben uns eben vertan. Ein anderer Freund von uns liegt in diesem Haus. Sein Name ist Bill Hero. Wir haben es von einem Bekannten erfahren, wissen aber nicht einmal, was ihm fehlt. Können sie uns vielleicht helfen?“ „Da fragense besser den Stationsarz´ , vielleicht kanner ihn´ dassagn. Hamse auch ´ne SIN dabei? Sons´ müssense draußn bleim.“ Nette Person. Ich gab ihr meine Alibi-SIN von Sharyls Schieber. Sie brummte zufrieden, als sie die Plastikkarte durch das Registriergerät zog. „Okay, issin Ordnung. Zweita Stock, dritte Tür rechz.“ Die gute Frau sollte einmal einen Englischkurs mitmachen. Sie hatte eine schlimmere Aussprache als der Rausschmeißer vor dem Underworld ´93, und das war ein Troll. Wir gingen also hoch und waren gespannt, was uns erwartete. Willy hatte im Astralraum ziemlich übel ausgesehen. Als wir sein Zimmer erreichten, schlug uns muffiger Geruch entgegen. Anscheinend wurde gerade das Essen ausgeteilt. Ein Wagen fuhr den Gang hinab, von einer Schwester gezogen. Wir öffneten Willies Tür und sahen ihn. Er lag augenscheinlich im Koma. Leise rasselnd ging sein Atem. „Was hat er bloß?“ fragte ich Sharyl. „Lass uns doch einfach die Schwester fragen,“ meinte sie. Die kam auch sogleich angewatschelt und meinte, dass `Mr. Hero` morgen aus seiner Bewusstlosigkeit erwachen würde. Aber als wir eingehendere Fragen stellten, verwies sie uns ebenfalls an den Stationsarzt. „Na dann holen sie uns den doch mal ´ran,“ sagte ich. Schnippisch erwiderte sie: „Ich werde sehen, ob er gerade Zeit hat,“ und ging mit gewaltigem Hüftschwung davon. Der Arzt, der übrigens sehr zufrieden mit sich schien, erzählte, dass er Willy wegen eines Cyberimplantates operiert habe. Das war es also! Und wir machten uns Sorgen. „Aber morgen dürfte er wieder aufwachen. Ja, ja, wirklich ausgezeichnete Arbeit, die ich da geleistet habe.“ „Davon bin ich überzeugt,“ meinte ich und dachte `Bevor der mir jetzt seine tolle Operationstechnik ans Bein bindet, mache ich mich lieber vom Acker.` Wir verabschiedeten uns, bevor er anheben konnte, dass er die semikortikalen Synapsen wirklich einzigartig in Resonanz mit dem cerebralen Stimulanzmatrixchip gebracht hatte.

Am Abend im Matchstick erwartete uns schon eine aufgeregte Ininvisible, die sogleich mit Sharyl eifrig über die neuesten Hardwareerscheinungen zu diskutieren begann. Ich unterbrach das Spektakel, das für mich ungefähr so interessant war wie ein Schneckenrennen, und klärte die finanzielle Seite. Lena würde meine Bedingungen akzeptieren und mit einer Rate von 20% ihres monatlichen Einkommens die Schulden zinslos abbezahlen. Danach ging ihre Debatte auch schon wieder los, besonders da Lena ein Programm haben wollte, das Sharyl für totalen Schrott hielt. Ich suchte zwar gelangweilt nach einer Abwechslung, aber fand eigentlich keine. Bis auf eine relativ kurze Unterhaltung mit einer üppigen Blondine verlief der Abend total ereignislos für mich.

20.06.2052

A

m nächsten Tag traf ich bei meinem Besuch bei Willy die gute Ininvisible an. Sie lächelte fast genauso freundlich wie am Vortag und begrüßte mich mit einem wortreichen „Hallo!“. Willy war tatsächlich wieder bei Bewusstsein, und erzählte mir von seinem neuen Implantat, einem Reflexbooster, der ihn schneller als alles andere auf dieser Welt machen sollte. Da ich Willies Schnelligkeit schon zu schätzen gelernt hatte, begrüßte ich seine Entscheidung. Leider würde es mir in Zukunft noch schwerer fallen, ihn zu heilen - und er musste sehr oft geheilt werden, da die Operation seine Lebenskraft so stark beansprucht hatte. Im Astralraum war er nicht vielmehr als ein grauer Schatten, der gerade noch als Mensch durchging. Bis zum Ende der Woche würde er noch hier liegen müssen, aber dann sei er wieder voll einsatzfähig. „Ich freue mich schon auf unseren nächsten Run,“ meinte er. „Ich bin auch gespannt, was das sein wird,“ sagte ich. „Auf jeden Fall werde ich sämtliche Connections checken, ob sie nicht was anzubieten haben. Und wenn gar nichts geht, dann schicken wir Lena mit ihrem neuen Deck in die Matrix und lassen sie irgendeine Sache für uns auftreiben, bei der wir der Welt und uns etwas gutes tun können.“ Lena grinste säuerlich und meinte ironisch: „Oder wir schicken dich in den Astralraum, um zu checken, ob alle Geister schon da sind.“ „Welche Geister?“ fragte ich, aber sie gab mir keine Antwort.

Anschließend fuhren Lena und ich zu mir. „Willst du nicht noch mit auf einen Kaffee hereinkommen?“ fragte ich sie. „Außerdem wolltest du mir immer schon etwas über dich erzählen, oder nicht?“ Sie brummelte irgendwas vor sich hin, gab sich dann aber geschlagen und kam mit. Mit einem Kaffee in der Linken saß sie schlie0lich auf meinem Bett und erzählte mir von ihrer Familie. Sie seien ursprünglich aus Polen gekommen, wurden aber verfolgt und seien geflohen. Ihre Reisen führten Lenas Familie durch ganz Europa. Irgendwann seien sie dann in Seattle gelandet, wo ihre Eltern bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen seien. Das habe sie auch gezwungen, dieses harte Leben zu führen. Mitfühlend legte ich ihr meinen Arm um die Schulter und setzte mich zu ihr. Sie rückte leider weg. „Und woher kommt dein unbezähmbarer Hass auf Alexej? Ich meine, man hasst jemanden ja nicht einfach grundlos.“ „Ach weißt du, es gab eine Zeit, da empfand ich nicht gerade Hass für ihn, selbst heute ist das manchmal so. Aber wenn ein junges Ding wie ich es damals war...“ Plötzlich brach sie mittendrin ab. „Ich muss jetzt leider gehen.“ Sie drehte sich um und öffnete die Wohnungstür. Als sie die Treppe hinunter lief, rief ich ihr hinterher: „Wenn du wieder mal ´nen Kaffee willst, bist du jederzeit willkommen!“ Ohne Antwort verließ sie meine Wohnung. Drek. Gerade hatte es begonnen, interessant zu werden. Aber es würde sich schon noch eine andere Gelegenheit ergeben, mehr über sie zu erfahren.

Statt mir weiterhin Gedanken über Ininvisible zu machen, arbeitete ich lieber an einer ersten Rohversion einer mächtigen magischen Waffe, die ich bald erschaffen wollte. Verzauberung war ziemlich komplex, aber so langsam kam ich hinter das Geheimnis. Bisher hatte ich nur Zauberspeicher erschaffen, vergleichsweise schwache Artefakte. Hier ging es um ein Schwert, ein Katana japanischen Stils. Die Form verlieh der Waffe eine tödliche Eleganz und passte auf faszinierende Weise zu dem Verwandlungszauber, den ich zu entwickeln gedachte. Es würde noch eine Menge Zeit vergehen, bis ich endlich die Formel entwickelt hatte. Und das war nur der erste Schritt. Es würden viele Materialien, Kraft und vor allem Zeit notwendig sein, um die astralen Sphären in Einklang mit dem Schwert zu bringen. Bis spät in die Nacht arbeitete ich über meiner Bibliothek, bis ich endlich zu müde war, ins Bett schlüpfte und in tiefen Schlaf fiel.

21.06.2052

H

abe heute morgen ausgeschlafen und anschließend meditiert, bis ich gesammelt genug war für meine Initiation am heutigen Nachmittag. Mit einem Taxi fuhr ich um 3.00 pm zu Alexej. Nelly erwartete mich schon an der Tür. Sie trug eine Robe aus samtenem Schwarz, die mit vielen arkanen Symbolen bestickt war und ihr vom Hals bis zu den Füßen reichte. Sie gab sich sehr schweigsam und führte mich durch das villenähnliche Gebäude. In einem kleinen Raum reichte sie mir eine Robe, die der ihren ähnlich war. Anschließend geleitete sie mich in das Wohnzimmer, in dem Lenas Feuerball hochgegangen war. Ich wusste, dass Alexej den Raum hatte ausbessern lassen. Als ich eintrat, sah ich einen völlig veränderten Raum. Es war dunkel, das Zimmer nur durch den Schein einiger Kerzen erhellt. Die Wände waren mit schwarzem Tuch abgehangen und mit Planetensymbolen geschmückt. Inmitten eines Lichterkreises aus dicken Kerzen stand Alexej. Ich schaute mich mit sich langsam an die Dunkelheit gewöhnenden Augen um. Auf dem Boden war eine Art hermetischer Kreis, allerdings von ungewöhnlicher Machart: es war ein niedriger großer Holztisch, der mit Sicherheit an die sechs Meter durchmaß und in der Mitte ein großes Loch hatte. Genaugenommen war er sogar nur drei Hand breit, so dass man eher von einem Ring sprechen sollte als von einem Tisch. Alexej trug eine reich verzierte Robe, genau wie ich und drehte sich langsam um. Mit dem, was als nächstes geschah, hätte ich nicht gerechnet: Alexej sagte einfach: „Hi!“ Ich war so sprachlos, dass ich nur ein stammelndes „Hallo!“ herausbrachte. Keine ausschweifende Begrüßung, kein Ritus, eigentlich nichts so, wie ich es erwartet hatte.

„Bist du bereit?“ fragte mich Alexej. „Ich glaube schon,“ meinte ich. „Dann setzt dich auf diesen Platz hier.“ Er deutete auf ein Kissen auf dem Boden und hockte sich selbst im Schneidersitz hin. Ich tat es ihm nach. Nelly erschien plötzlich aus dem Nebenraum und brachte ein Tablett mit drei schüsselähnlichen Tassen, aus denen es dampfte und aromatisch roch. Hoffentlich war das nicht irgend so ein verteufelt starkes Gebräu, das selbst den stärksten Mann umhaute. „Das ist das Getränk, das für die Zeremonie gebraucht wird: eine spezielle Mischung grünen Tees aus Japan,“ sagte Alexej. „Es folgt nun der Schwur, der dich zu einem Mitglied unseres Zirkels machen wird und deine erste Prüfung darstellt.“ Natürlich, er hatte mir alles genauestens erklärt und mir einen Abzug des Zeremonialtextes gegeben, damit ich auch genau wusste, was ich da schwor. Inzwischen hatte sich Nelly schweigend an eine Stelle am Tisch gesetzt, so dass wir drei ein gleichseitiges Dreieck innerhalb des Kreises bildeten. Alexej hob an und sprach zu mir: „Was ist Dein Begehren in unserem Kreise, Magus?“ Ich erwiderte gemäß der Zeremonie: „Ich, Galen Knightsbride, den man auch Magnus nennt, bin hier aus freiem Willen und reinen Gewissens und wünsche dem Ordo Omnia Vincit Amor beizutreten.“ „Der Vertreter des Ordo Omnia Vincit Amor ist gewillt, Dich anzuhören, Magus. Du weißt, wir stehen im Einklang mit den Sphären. Wir sind die Bewahrer und Erforscher allen arkanen Wissens und ehren die lebensspendende Magie in unseren Gedanken und Taten. Wir ehren die Freiheit jeden Lebewesens. Wir gebieten über alles Magische, aber wir beherrschen es nicht. Wir lenken die natürlichen Flüsse und bannen alles Widernatürliche. Die Macht der freien Geister und der Elemente ist mit uns. Wir verteidigen alles Leben und töten weder aus Lust, noch Gier, noch für Geld. Das Leben der astralen Sphären ist uns heilig. Es ist der Ausfluss aller Dinge von dem ewig unerschafften Licht und der Vereinigung mit den vier astralen Gewalten. Auf dem Wege magischer Forschung versuchen wir, seiner Vollkommenheit teilhaftig zu werden. Du, der Du uns beizutreten wünschst, bist Du gewillt, das Leben der Geister zu schützen wie Dein eigenes?“ „Ich bin es.“ „Bist Du gewillt, niemals aus eigennützigen und unethischen Gründen zu verletzen oder töten, gleichgültig, ob es Mann, Frau, Geist oder Metawesen sei?“ „Ich bin es.“ „Bist Du gewillt, die arkanen Sphären und neue Wege der Magie zu erforschen und Dich der Vervollkommnung Deines Lebens zu widmen, wie schwer Dir das auch fallen mag?“ „Ich bin es.“ „Bist Du Dir bewusst, dass Deine Entscheidung einmalig und unwiderruflich ist und dass niemand, nicht astrale noch irdische Wesenheit, Dich jemals davon wird entbinden können?“ „Ich bin es.“ „Dann sei willkommen in unserer Mitte, Galen Knightsbride, den man auch Magnus nennt. Mag das Licht der Vielfalt allen arkanen Seins, Gewesenen und Werdens Dich und Deinen Weg durch die Sphären erleuchten.“ Während der ganzen Zeit hatte er die Teetasse in der Hand herumgeschwenkt. Anscheinend wurde dadurch die Temperatur des Getränks gesenkt, denn er stürzte den Inhalt in einem Zug herunter. Ich sah auf die Tasse vor mir auf dem Tischchen und nahm sie in die Hand. Sie war ganz kühl von außen. Allerdings spürte ich schon aus der Distanz, dass der Inhalt beinahe kochend heiß war. Inzwischen hatte auch Nelly ihren Tee geleert. Wahrscheinlich hatte auch sie ihre Tasse herumgeschwenkt, während ich den Schwur abgelegt hatte. Unsicher hob ich das Gebräu an die Lippen, aber es war einfach zu heiß. Ich konnte es nicht über mich bringen, es herunterzukippen, weil ich ganz genau wusste, es würde mir die Kehle aus dem Hals brennen, wenn ich es tat.

„Es ist eigentlich üblich, den Tee zum Abschluss der Zeremonie zu trinken, nicht mit den Augen zu verschlingen,“ meinte Nelly. Ich sah Nellies und Alexejs wartende Blicke auf mir ruhen. Sollte ich sagen, dass ich gerne noch ein paar Minuten warten würde, bis ich trank, schließlich war es doch eigentlich ziemlich gemütlich in dieser Runde...

Drek. Ich konnte mich jetzt nicht einfach so blamieren. Ich fasste mir ein Herz, holte tief Luft und setzte meine Lippen an das Gesöff. Ich versuchte, so schnell die Tasse zu leeren, dass mein Gehirn nicht auf die Glut in meinem Hals reagieren würde und ich vor dem Schmerz verschont bliebe. Leider ging das ziemlich in die Hose. Ich fühlte mich, als ob der Vulkan in meinem Schlund mir den Kopf von den Schultern reißen würde. Röchelnd sank ich zu Boden. Nelly sprang auf und legte mir die Hand auf die Stirn, sprach beruhigende Worte und heilte mich fast augenblicklich. „Danke,“ sagte ich. Hurra, ich konnte noch sprechen! „Das war ein überaus überflüssiger Teil der Zeremonie. Warum hast du mir davon nichts erzählt?“ wandte ich mich an Alexej. „Du hast mich immer nur nach dem Schwur gefragt, niemals nach den rituellen Begleitumständen. Auf jeden Fall bist du jetzt ein Initiat und ich finde, wir könnten erst einmal ein Abstecher in die Metaebene machen.“ „Was, jetzt?“ Aber warum eigentlich nicht? Ich war schon wieder gespannt wie ein Flitzebogen. „O.K., lass uns loslegen,“ sagte ich schließlich. Er meinte zu Nelly: „Dann verlassen wir dich jetzt. Du weißt, was du zu tun hast,“ und zu mir: „Verlass einfach deinen Körper mit dem Ziel, die Metaebene zu erreichen. Du darfst nicht in die astrale Ebene wechseln, denn von da aus gibt es keinen Weg dorthin. Es ist ganz einfach, du musst es nur wollen.“

Er hatte recht. Ich verließ meinen Körper und erreichte einen Ort absoluter Finsternis. Dies war bestimmt nicht der Astralraum. Irgendwo neben mir spürte ich Alexejs Anwesenheit. „Und jetzt? Wie geht es weiter?“ Etwas verunsichert schaute ich mich um. „Der Hüter der Schwelle wird uns begegnen,“ meinte Alexej. „Er wird uns einer Prüfung unterziehen und so feststellen, ob wir würdig sind, in die Metaebene zu wechseln.“ Nach einer Weile des Wartens in der Dunkelheit bemerkten wir einen schwachen Lichtpunkt, der von weit her auf uns zuzukommen schien, denn er wurde immer heller. „Das ist er,“ meinte Alexej. Ich schaute genauer hin. Das sollte der Hüter sein? Vor mir stand der Geist der japanischen Magierin Sumiko! Schockiert schaute ich meinen Begleiter an. „Hast du noch nicht genug Unheil angerichtet, Galen Knightsbride? Musst du jetzt auch noch in die höheren Mysterien eindringen, um mehr Macht zu erlangen? Du siehst doch, was aus mir geworden ist, weil du mir in die Quere gekommen bist.“ „Aber... aber du hast uns doch angegriffen, was sollten wir denn tun, uns wie Lämmer dahinschlachten lassen?“ „Das ändert nichts an deiner Schuld, ´großer Zauberer´. Deinetwegen musste ich sterben!“ Die Gewissensbisse waren stärker als je zuvor, als Alexej mir zuraunte: „Denke daran, es ist alles nur eine Prüfung.“ Mit krampfhafter Anstrengung kämpfte ich mein Schuldgefühl nieder und erwiderte: „Hinfort mit dir, du bist nur ein Trugbild, nichts weiter. Was ich getan habe, war zwar nicht richtig, aber auch nicht anders zu machen. Ich hatte Angst und habe aus reiner Notwehr gehandelt.“ Daraufhin wandte sich der Hüter Alexej zu, diesmal in der Gestalt von Lena „Ininvisible“. Alexej aber ging gar nicht groß darauf ein, wenn er auch einen Moment zögerte, sondern sagte einfach nur: „Du hast nicht das Recht, mir Vorwürfe zu machen, Hüter der Schwelle. Das kann nur Lena.“

Damit verschwand der Hüter und wir hatten endlich freie Bahn. Leider kann ich mich kaum noch an meinen Aufenthalt auf der Metaebene erinnern, mir sind nur einige verschwommene Eindrücke im Kopf hängengeblieben, zum Beispiel, dass man sich dort nur mit Kraft seines Geistes fortbewegt und dass wir auf der Suche nach der Zitadelle dieses Ortes einen Geist niederringen mussten, der uns eigentlich bei weitem überlegen war. Es war sehr heiß dort, und die Zitadelle sah aus wie ein aus dem Fels gehauener Kamin, durch den wir springen mussten, um wieder zurückzukommen. Der Übergang aus der Astralwelt war genauso abrupt wie der Eintritt: in Alexejs Wohnzimmer kamen wir wieder zu uns. Nelly hatte unsere Körper in warme Decken eingehüllt und schlief friedlich auf dem Fußboden. Anscheinend waren mehrere Stunden vergangen. „Normalerweise,“ meinte Alexej, „betritt man die Metaebene nicht, ohne einen besonderen Grund zu haben, eine Information, die man sucht, den wahren Namen eines Geistes zum Beispiel oder die Thesis für einen Zauber. Man setzt sich, wie du ja gemerkt hast, einem beträchtlichen Risiko aus; man könnte ja einmal die Zitadelle nicht finden und wäre dann hilflos gestrandet und zum ewigen Umherirren verurteilt, während der Körper auf der materiellen Ebene vor sich hinsiecht.“

Während ich nach Hause fuhr, dachte ich über seine Worte nach: man ging nicht ohne triftigen Grund auf die Metaebene... Ich würde es mir zweimal überlegen, ob ich wegen irgendwelcher Lappalien eine Reise dorthin unternehmen würde, wenn sich die Gelegenheit wieder einmal bieten würde. Sinnierend verabschiedete ich mich von Nelly, die mich gefahren hatte, und öffnete in Gedanken versunken die Wohnungstür, während Nelly davonfuhr.

Ich hatte keine Zeit, um zu reagieren. Ein Schlag erwischte mich, der wohl einen ausgewachsenen Troll zu Boden geschickt hätte, und ich fiel auf die Knie. Ein Zwerg stand vor mir, mit einem Schlagstock oder Stab bewaffnet. „Grüß mir die Sterne, Freundchen,“ sagte er noch, als ich anhob einen Schlafzauber zu wirken, und schlug wieder zu. Diesmal verlor ich das Bewusstsein.

Als ich wieder aufwachte, sah ich mich wie ein Paket verschnürt auf dem Teppich liegen, der Sharyls Wohnzimmer zierte. Und sie lag neben mir, keine zwei Meter entfernt, anscheinend bewusstlos. Wenn ich mich befreien konnte, war sie also keine große Hilfe für mich. Wer hatte diesmal etwas gegen uns im Sinn? Es schien ein gezieltes Manöver und kein einfacher Raubüberfall zu sein, denn der Zwerg hatte mich erwartet. Als ich näherkommende Stimmen aus dem Nachbarzimmer hörte, verhielt ich mich still und tat so, als ob ich noch bewusstlos wäre.

„Aber er sagte doch Gettisburgh Road 351! Wieso hast du dich vertan?!“ fragte eine Stimme, die ich nicht kannte. „Ich habe mich nicht vertan. Auf diesem Zettel stand Camelot Way 123, da bin ich halt hingefahren.“ verkündete die dunkle Stimme des Zwergen. „Was kann ich dafür, wenn er mir den falschen Zettel gibt!“ „Ach verdammt, da verlasse ich mich einmal auf dich, lasse dich einmal meinen Wagen fahren, und du bringst uns zu der falschen Adresse! Was erzählen wir den beiden denn jetzt?“

Ich blinzelte unauffällig in Richtung der Tür. Dort stand ein großer, hagerer Typ mit langen Haaren, in einen grauen Ledermantel gehüllt, augenscheinlich ein Elf. Er trug einen Halfter unter seiner Achselhöhle, aus dem der Kolben irgendeiner Pistole herauslugte. Ich fand es an der Zeit, mein Scheinkoma zu beenden. „Würde mich einer von euch bitte von diesen lästigen Fesseln befreien?“ fragte ich. Der Elf zuckte zusammen und drehte sich zu mir hin. Unter vielen entschuldigenden Worten band er Sharyl und mich los. „Ich bin wirklich untröstlich, mein Herr, dass wir so übel mit ihnen umgesprungen sind, aber es ist alles ein Missverständnis. Wir haben von Mr. Johnson den Auftrag erhalten, Ihnen eine Nachricht zu überbringen.“ „Das ist eine seltsame Art und Weise, eine Nachricht zu überbringen,“ fiel ich ihm ins Wort. „Es ist alles die Schuld dieses hirnamputierten Zwergen!“ Aus der Ecke dröhnte ein aufgebrachtes `Huhmpfff`. „Er hat nämlich die Adressen verwechselt. Wir sollten noch einen anderen Auftrag ausführen, aber eigentlich woanders.“ „Nun, dann will ich mal hoffen, dass ihr eure Nachricht noch nicht zu dieser Adresse gebracht habt, denn dann würde ich mit Sicherheit noch saurer werden. Was solltet ihr mir denn übermitteln?“ „Mr.Johnson sagte, dass eine Ms. Donovan - der Name sollte Ihnen etwas sagen, meinte er - in Schwierigkeiten ist. Ms. Donovans Kon, Ares Macrotech, hat sie an eine Firma in Europa, wahrscheinlich der Schweiz, verkauft. Aber dazu hat er nichts näheres verlautbart, er meinte nur, Sie sollten einen Allan Corliss kontaktieren. Der kann Ihnen weitere Details erzählen.“ Die Nachricht traf mich fast wie ein Hammer, stärker noch als der Schlag des Zwergen. Endlich eine Nachricht von Eve, wenn auch eine schlechte! Ich versuchte, ungerührt zu erscheinen. „Und was glaubt ihr, was ich eurem Johnson erzählen werde, wenn ich ihn treffe?“ „Das lässt du mal schön bleiben, wenn du leben willst,“ meinte der Zwerg. „Still, du Idiot! Musst du alles immer noch schlimmer machen?“ fuhr ihm der Elf ins Wort. „Wir hoffen, dass Sie unser Missgeschick nicht herumerzählen, werter Herr. Es ist ja eigentlich nicht so viel passiert, und...“ Mit sichtlich bekümmerter Miene schaute er mich an. Ich war so hocherfreut über die Nachricht, dass mein Ärger verflogen war, spielte aber ein kleines Spiel, das mir vielleicht zwei neue Kontakte einbringen würde. „Nun erst mal brauche ich eure Namen. Schließlich kennt ihr auch den meinigen und den meiner Chum-merin.“ Ich fiel innerlich vor Lachen fast hintenüber, als ich sie erfuhr: der Zwerg hieß „Joe Big“ und der Elf „Al Pipsqueak“. „Jungs,“ meinte ich, „euch ist hoffentlich klar, dass ihr mir einen Gefallen schuldig seid. Wenn ich euch mal brauche, werde ich nicht zögern.“ Der Zwerg schien zwar alles andere als einverstanden zu sein, aber Mr. Pipsqueak (hah!) motzte ihn an und er gab Ruhe. Kurz nachdem sie verschwunden waren, erwachte Sharyl. „Was ist denn passiert? Wo bin ich und wie spät ist es?“ Ich schaute auf die Uhr; es war gerade 10.00 pm durch. Ich erklärte ihr, was vorgefallen war, und bat sie um Hilfe, wenn sie wieder fit wäre. „Klar helfe ich dir, ich weiß doch, was dir Eve bedeutet.“ Mit einem seltsamen Seitenblick musterte sie mich. „Aber stürze dich nicht in irgendwelche dunklen Geschäfte wegen...“ „... wegen einer Frau, meinst du? Seltsam, dass ausgerechnet du das sagst.“ Heute abend waren wir beide zu fertig, um noch etwas zu unternehmen, vielmehr würden wir morgen anfangen, nach Infos zu suchen - und eine Methode, wie wir uns demnächst vor solchen Übergriffen schützen würden, musste uns auch einfallen. Aber da gab es einige magische Tricks, die ich noch nie ausprobiert hatte, und sicherlich wäre Alexej auch nicht abgeneigt, mir zu helfen...

22.06.2052

D

ieser Tag sollte einer der schwärzesten in meinem bisherigen Leben werden, aber davon hatte ich keine Ahnung, als ich aufstand und mich unter der Dusche wach schruppte. Es fing schon gut an: Sharyl versuchte, sich in die Matrix einzustöpseln, als ich im Bademantel ins Wohnzimmer tappte. Ich war kaum drin, als sich ihre Augen vor Überraschung weiteten und sie mit einem lauten Knall zu Boden fiel! „Sharyl, was machst du denn?!“ ´ Jetzt kann sie sich nicht einmal mehr vernünftig in die Matrix einstöpseln, ´ dachte ich. Als ich jedoch herbeieilte, um sie zu begutachten, taten mir meine Gedanken leid. Sie war ohnmächtig und ihre Aura sah überhaupt nicht gut aus. Nachdem ich sie magisch behandelt hatte, kam sie langsam wieder zu sich und faselte durcheinander etwas von schwarzem ICE, das nur auf sie gewartet hätte... „Es war so schnell! Ich konnte kein Utility mehr hochfahren, um mich zu schützen, und dann hatte es mich schon herausgeworfen. Das war absichtlich vor unserer Haustür platziert, sage ich dir! Irgend jemand hat da was gegen uns.“ Als sie sich wieder etwas beruhigt hatte, besprachen wir unsere nächsten Schritte. Sie wollte untertauchen, bis sie geklärt hatte, was Sache war, mich aber nach 24 Stunden anrufen. „Meinetwegen. Ich finde zwar, dass du etwas heftig reagierst, aber wenn du meinst, dass es nötig ist... aber melde dich bitte.“ Erst nachdem sie mir versichert hatte, dass sie das bestimmt tun würde, konnte ich sie ruhigen Gewissens allein lassen. Ich würde in der Zwischenzeit meine eigenen Recherchen machen. Nachdem sie ihre Habe zusammengepackt hatte, hauchte sie mir einen Kuss auf die Wange und meinte spöttisch: „Bleib sauber, du großer Magier.“ Dann setzte sie sich in ihren Wagen und fuhr davon. Ich hatte das mulmige Gefühl, dass ich sie nie wiedersehen sollte.

Wie so oft, fuhr ich mit dem Taxi zu Alexej. Ich hatte ein gutes Gefühl, wenn ich sein Haus betrat, ein Gefühl der Sicherheit und des Schutzes. Irgendwie war er mir innerhalb von wenigen Tagen zum innigen Freund und Vertrauten geworden. Kannten wir uns tatsächlich erst so kurz? Nicht länger als zwei Wochen. Aber ich glaube, auch er sah in mir jemanden, auf den er sich hundertprozentig verlassen konnte. Als wir uns begrüßt hatten, schilderte ich ihm die jüngsten Ereignisse. „Irgendwie scheint in den letzten Wochen die ganze Welt verrückt zu spielen,“ meinte ich. „Es ist doch nicht normal, dass scheinbar alle Welt irgend etwas von uns will, ohne uns eine Pause zu gönnen. Die Sache mit Eve setzt mir besonders zu, weißt du, ich habe sie eine Zeitlang mal wirklich geliebt, glaube ich. Ich weiß zwar nicht, wie sie es gesehen hat, aber wir beide hatten niemals eine wirkliche Chance; bevor sich eine richtige Beziehung entwickeln konnte, war sie verschwunden. Ob sie sich überhaupt noch an mich erinnert? Aber was soll das Gewäsch? Wir haben wichtigere Sachen zu tun. Lena sollte sich einmal die Matrix um Sharyls Terminal anschauen, und während sie das tut, habe ich eine Bitte an dich: Du sagtest, dass du bereit wärst, einen ganz besonderen Zauberspeicher für mich zu verzaubern...“ So redeten wir miteinander, ich rief Lena an (die natürlich bereit war, einmal in der Matrix für mich nachzuschauen) und währenddessen verzauberte Alexej meinen Platinring, den ich bislang als Zauberspeicher für ´Panzer´ an mir trug. Er würde in Zukunft magisch meine Reflexe verbessern, wenn es nötig war. Und die Zeit sollte bald kommen, dessen war ich sicher.

Lena scannte die unser Haus umgebende Matrix und stellte fest, dass sich dort ein Decker aufgehalten hatte. Seltsam, Sharyl meinte doch, es sei schwarzes ICE gewesen... Beunruhigt fuhren Lena und ich zu Willy ins Krankenhaus, um ihn endlich dort herauszuholen. Auf dem Weg dorthin rief Jack Bullethead an. Er hatte irgendein Problem, wollte sich aber nicht näher dazu äußern. Er sagte, im Moment sei die Kacke am dampfen, und deshalb sollte ich meinen Arsch schnell zu ihm hinüberschwingen. Wir vereinbarten ein Treffen im Vasapark, an der Stadtstraße 90. Es musste dringend sein, denn er war sonst ein sehr besonnener Mann, der selten Schimpfworte in den Mund nahm.

Trotzdem holten wir vorher erst noch Willy aus dem Krankenhaus. Als wir dann zu dritt und für unsere Verhältnisse relativ normal gekleidet (unsere dicken Wummen hatten wir alle im Auto gelassen) am Eingang des Vasapark den Eintritt bezahlt hatten, genauso wie es gewöhnliche Pinkel taten (wir haben was ?!?), schwärmten wir aus, um Jack zu suchen. Nach kurzer Zeit fand er uns. Wir wären fast an ihm vorbeigelaufen, so gut war er versteckt. Er trat in voller Kampfmontur, die nur ein gefütterter Mantel bedeckte, hinter einem Busch hervor, an dem ich gerade vorbeigelaufen war. „Hey Mag,“ rief er mir zu, und ich drehte mich um. Während er auf mich zu kam, schmiss er irgendeine Pille ein. Mit gehetztem Blick schaute er sich um. „Gut, dass ihr so schnell kommen konntet, ich habe sonst niemanden, dem ich vertrauen könnte.“ Ich rief die anderen per Telekom, damit er nicht alles zweimal erzählen musste.

Dazu hätte er auch keine Zeit mehr gehabt. Denn gerade als er anfangen wollte zu reden, ging ein Zucken durch seinen Körper, und er griff sich ans Herz. Ein röchelndes Stöhnen entfuhr seiner Kehle, als er zu Boden sank. Verdammt, was war hier los! Ich askennte seine Aura und stellte fest, dass er im Sterben lag. Aber warum? Kein Gift, keine Strahlung. Das einzige was ich sah, war, dass ich ihm mit meiner Kraft nicht helfen konnte. Hatte er etwa einen defekten Herzschrittmacher? „Verdammt, Jack, du stirbst mit jetzt nicht unter den Händen weg, klar? Was war so wichtig, weshalb hast du uns gerufen?“ Mit letzter Kraft flüsterte er: “Ich glaube, It... Apollo... Golem ist in der Stadt!“ Mit diesen Worten starb er; und ich konnte nichts weiter tun, als ohnmächtig und hilflos zuzusehen! Inzwischen waren Lena und Willy eingetroffen und hatten die letzten Worte mitbekommen. Beklommen schauten sie auf mich nieder. „Was machen wir denn jetzt,“ fragte Willy. „Mag, Mag, wach auf! Deine Trauer in Ehren, aber wir haben eine Leiche am Hals!“ So hatte ich das noch gar nicht gesehen. Jack, mein Freund, dies hier sollte nicht ungesühnt bleiben. Irgendwer war verantwortlich für diesen ganzen Bockmist, jemand, der dafür auch bezahlen würde. Aber Willy hatte recht - wir konnten Jack weder hier liegen lassen, noch konnten wir ihn einfach so heraustragen. Stumm zog ich Jacks Körper in die Nähe der Büsche. Wir durchsuchten Jack gründlich, so unehrenhaft es mir auch vorkam; aber schließlich konnte schon der kleinste Hinweis für uns (und für Jacks Auftrag, den ich beschlossen hatte zu lösen, da ich es ihm schließlich schuldig war) sehr wichtig sein. Zutage kamen eine Ares Predator (Gott allein mag wissen, was die Leute an dieser Waffe so toll fanden), ein Ingram Valiant LMG, zwei Wurfmesser, ein Handcomputer (den Lena, pragmatisch wie sie nun einmal war, sogleich an sich nahm), ein Kredstab über 1000¥ und, der wichtigste unserer Funde, zwei Key-Cards, eine zu Jacks Wohnung und eine zu Intellips, seinem Kon. Leider hatten wir Jacks Körper am Hals; wir konnten also kaum einfach so aus diesem gut bewachten Park entfleuchen. Wir versuchten einen Trick: es wäre viel einfacher, mit einer unsichtbaren Leiche an den Wächtern vorbeizumarschieren...

Abgesehen davon, dass mir das Herz in die Hose rutschte, als einer der Guards auf uns zukam, als wir nach draußen wollten, klappte alles wie am Schnürchen. Der Pinkel wollte auch nur wissen, warum wir denn den Park so schnell wieder verließen, schließlich wären wir doch erst gerade hereingekommen. Nach kurzer Debatte versprach er uns, uns das nächste Mal umsonst durchzulassen. Der hatte Probleme! Ich schleppte mich zusammen mit Lena an einer Leiche ab und musste so tun, als ob ich mit ihr Händchen halten würde! Aber als wir auf dem Weg zu Jacks Unterkunft waren, dachte ich, dass es anscheinend doch noch nette Menschen gab.

In Jacks Bude angelangt, die mir mehr wie eine Villa erschien, drapierten wir die Leiche (gegen meinen Vorschlag, ich hatte da etwas andere Vorstellungen) so, als ob Jack einen plötzlichen Anfall bekommen hätte und dann ohnmächtig auf seine Couch gesunken sei. In seinen Dateien fanden wir auch die Bestätigung für unsere Vermutung, nämlich dass er an einem defekten Herzschrittmacher gestorben war. Seltsamerweise hatte er die letzten Einstellungen an dem Gerät erst gestern machen lassen, und zwar in der Klinik, in der auch Willy behandelt worden war. Er hatte überdies ein längst überholtes Gerät in seiner Brust sitzen. Es taten sich eine Menge Fragen auf, die zu beantworten ich mir selbst auferlegte. Außerdem stießen wir auf einen Namen, der anscheinend zusammenhanglos in irgend einer Datei herumgeschwirrt war: Newpen. Rätsel hin, Rätsel her, es war nicht viel Zeit zum Herumstöbern. Mich im Stillen bei Jack entschuldigend, nahm ich einen seiner allerbesten Anzüge, Mantel und Schuhe sowie einige Kleidungsstücke zum drunter ziehen. Wir hatten festgestellt, dass Jack keine leiblichen Erben hatte und daher sowieso alles an seinen Kon fallen würde, und schließlich konnte ich mit dem Zeug eine Undercover-Mission starten oder hübsch ausgehen, während der Kon keinerlei Verwendung dafür haben dürfte. Ich sollte - sehr zu meinem Leidwesen - erst später erfahren, dass Jacks Tod nicht der einzige gewesen sein sollte, der sich in dieser Affäre zugetragen hatte, aber darüber später mehr.

Wir verschwanden wieder, nicht ohne dass Lena unsere Spuren verwischte. Auf dem Weg nach Hause kamen wir an eine Polizeisperre, schon die zweite an diesem Tag. Die erste hatten wir umfahren, die zweite jedoch wollte ich näher austesten. Allein natürlich, denn ich wollte die anderen mit meiner Neugierde nicht in Gefahr bringen. Als ich von den LoneStar-Cops kontrolliert wurde, waren Lena und Willy längst über alle Berge. Ich wünschte bald, niemals diese dämliche Idee gehabt zu haben und verfluchte meinen Übermut, denn die Cops suchten nach mir! Unglaublich, so etwas. Wo ich doch nie niemals nicht auch nur einer Fliege eine Haar krümmen konnte und auch nie gekrümmt hatte! Das erzählte ich jedenfalls den Bullen. Die indes meinten, in mir einen tollen Fang gemacht zu haben, und als sie mich groberweise ins Präsidium transportiert hatten, erfuhr ich auch, warum: ich war - seit neuestem - ein international gesuchter Terrorist, dessen geringstes Verbrechen Vergewaltigung und Mord, und dessen jüngstes Verbrechen der Anschlag auf den Intellips-Kon war! Darauf hatte ich nicht viel zu erwidern. Die Bullen - es waren drei, die mich verhörten, und dabei nicht gerade sanft mit mir umsprangen - gestatteten mir keineswegs einen Anruf, als ich das versuchte, nagelte mir einer von ihnen das Handgelenk mit seinem Fuß am Boden fest und zerstörte meine Wristkom. Ich hatte zwar schon viel von korrupten LoneStars gehört, aber dass diese Typen mit solch gemeinen Tricks vorgingen, das hätte ich mir nicht träumen lassen. Als sie mich nach dem Aufenthaltsort meiner Komplizen fragten, schwieg ich auch nach ein paar Schlägen noch. Ich wusste aber genau, dass ich dieses Getue nicht lange würde ertragen können. Ich war verletzt, und irgendwann würde meine Widerstandskraft gänzlich dahingeschwunden sein. Glücklicherweise sperrten sie mich nach kurzer Zeit in eine Einzelhaftzelle, ein dunkles Loch, das nicht hoch genug war zum Stehen und nicht lang genug zum Liegen. In kompletter Düsternis wartete ich ein paar Minuten ab (natürlich war meine Uhr zerstört, aber ich denke, es waren ein paar Minuten), und glitt dann in den Astralraum.

Meine einzige Chance war Alexej. Außer ihm konnte mich niemand im Astralraum sehen, dass heißt können schon vielleicht, aber helfen würde mir wohl kaum ein zufällig vorbeikommender Magier oder Schamane. Alexej indes musste doch magische Schutzvorrichtungen an seiner Villa haben, die ihn auf astrale Wesenheiten aufmerksam machen würden! Mit wahnsinniger Geschwindigkeit schoss ich zu seinem Haus und versuchte, die Mauer zu überfliegen. Ich spürte kurz etwas wie einen Lufthauch an mir vorbeihuschen, da sah ich auch schon Alexej in astraler Gestalt aus dem Gebäude schweben. „Da hast du aber noch einmal Glück gehabt, dass ich meine Wächter rechtzeitig zurückpfeifen konnte,“ meinte er. „Das wäre zuviel des Üblen am heutigen Tage,“ entgegnete ich und erzählte ihm die Geschichte. Wir schauten uns meine Zelle an und kamen bald auf einen erfolgversprechenden Fluchtplan, der allerdings niemals klappen konnte, solange ich noch verletzt war. „Tja, Chummer,“ sagte Alexej. „Da müssen wir wohl warten, bis du dich ausgeruht hast!“

23.06.2052

A

ls ich aus meinem erholsamen Schlaf erwachte, stand Astral-Alexej schon wieder vor mir. „Da bist du ja endlich,“ meinte er. Sogleich machten wir uns an die Arbeit: zunächst musste ich die Zellentür aufsprengen, möglichst so, dass es nicht gleich sofort jeder merkte. Mit einem modifizierten Rammzauber war dies nach einigen Versuchen aber kein Problem: bald hatte ich ein relativ kleines Loch in die Tür geschlagen (die, wohlgemerkt, aus Sicherheitsstahl bestand). Alexej hatte zwar zunächst ein paar Schwierigkeiten mit seinem Part in dieser Angelegenheit, aber schließlich schaffte er es doch, mich in einen kleinen Nager zu verwandeln, eine Maus. Zudem hatte ich mich unsichtbar gemacht, und so konnte ich unter Zurücklassung all meiner persönlichen Dinge (abgesehen von meinen Foci) und splitterfasernackt aus dem LoneStar-Gebäude flüchten. Nach ein paar Stunden erreichte ich frierend und unsichtbar Alexejs Villa. Er erwartete mich natürlich schon, schließlich war man im Astralraum kaum an Distanzen gebunden.

Die nun folgenden Ereignisse kann und will ich nur in geraffter Form niederlegen, denn erstens wurden wir immer wieder von neuen Informationen überflutet, und zweitens liegt ein Dunst über den Ereignissen, der meine Erinnerung trübe und trügerisch macht.

Lena und Willy, von Nelly informiert, waren schon angekommen und hatten sich auf die Suche nach neuen Erkenntnissen gemacht. Bei Alexej würden wir zunächst unterkommen, bis sich die Sache geklärt hatte und bis unsere Häuser nicht mehr überwacht wurden. Lena fand eine Spur in der Matrix, diesen mysteriösen Newpen betreffend. Er war Projektleiter bei Itaru und forschte an einer Form künstlicher Intelligenz, wie es sie noch nie gegeben hatte: an PEDE (Perfect Decking Device), einer Maschine, die selbständig in der Matrix agieren konnte wie ein Decker; eine neue Form von Leben, meiner Meinung nach, wenn auch nicht in konventioneller Hinsicht. Die Icona dieser Maschine war - na schau mal einer an - ein griechischer Gott mit Lorbeerkranz, Sandalen und Lendenschurz, kurzum, wohl jener Apollo, vor dem Jack uns mit seinen letzten Worten zu warnen versucht hat. Im Itaru-Mainframe entdeckte Lena noch andere interessante Sachen: unsere Konten waren von Itaru überzogen worden - mit einer Million ¥ jeweils! Wir tauchten einmal als zuverlässige Lieferanten für Intellips´ Chips auf und einmal als unter Verschluss zu haltende Terroristen, die Intellips niedergebrannt hatten und - mit einer kleinen Bestechung an drei LoneStar-Cops verbunden - in den dunklen Kerkern der Behörde schmachten sollten, ohne jemals wieder das Tageslicht zu sehen. Das passte alles nicht zusammen. Außerdem stellte Lena fest, dass seit einem Tag niemand mehr in Itarus Matrix herumgestöbert hatte - so etwas gab es überhaupt nicht! Als sie daraufhin durch eine Kamera im Itaru-Komplex schauen wollte, wurde sie von etwas aus der Matrix geworfen, das wir am Vidschirm nur als einen griechischen Gott identifizieren konnten...

Die Sache war also relativ klar: Apollo war durchgedreht und hatte die Kontrolle an sich gerissen. Wahrscheinlich war er auch verantwortlich für die Übel, die uns zur Last gelegt wurden. Aber was hatte er gegen uns? Das würde uns nur der Doc sagen können, der ihn entwickelt hatte, und der war mit ziemlicher Sicherheit im Itaru-Komplex.

Zunächst jedoch zogen wir unser gesamtes Geld auf Kredstäbe (nicht dass irgendein Fuzzi auf die gleiche Idee kam wie Itaru und uns beraubte!) und ich musste mich um meine magische Bibo kümmern, die natürlich immer noch bei mir zu Hause war. Mein Appartement wurde von zwei der Drecksbullen überwacht, die mich verhört hatten. Wahrscheinlich waren sie von Itaru bestochen worden. Wir nahmen sie uns vor. Leider hat es nur einer überlebt, den anderen „konnte ich nicht mehr retten, nicht, dass ich es versucht hätte.“ Bei ihm fand ich einen Dolch, den er einem Zauberer abgenommen haben musste, denn er bestand aus so reinem Material, dass man ihn sofort hätte verzaubern können. Bei Gelegenheit würde ich mich auf die Suche nach seinem Besitzer machen - wenn der mal noch lebte!

Im Haus fand ich ein heilloses Chaos vor. Fast alle Gegenstände waren zerstört oder unbrauchbar. Glücklicherweise konnte ich die meisten meiner optischen Chips, auf denen mein wertvollster Schatz, meine Bibliothek, gespeichert war, retten. Auch Magschlossknacker und Seikosha Data Power waren noch in Ordnung. Abgesehen von diesen Sachen nahm ich nur noch ein paar Klamotten mit, von denen ich sowieso nie viele besessen hatte.

Wieder bei Alexej angelangt, kümmerten wir uns zuerst um einen Wagen, mit dem wir zu Itaru fahren konnten, sowie um einige Ausrüstungsgegenstände und Vorräte für mehrere Tage. Über Alexej gelangten wir dann auch an einen Jeep, der für die einige Tage dauernde Fahrt durch tiefen Wald wie geschaffen war. Schließlich lag der Itaru-Forschungskomplex ein paar hundert Meilen südwestlich von Seattle an der Pazifikküste, mitten im Salish-Gebiet. Wir würden uns versteckt halten müssen, damit wir nicht von einer Grenzpatrouille aufgespürt wurden. Zur Verteidigung besorgten wir uns noch ein mittleres MG, das wir jedoch nicht am Jeep befestigen konnten. Willy meinte jedoch, es sei kein Problem, während der Fahrt „mal eben eine Halterung für das Gewehr an die Karre zu schweißen. Is zwar keine Werkstatt da, aber das müsste trotzdem gehen.“

Alexej war jedenfalls heilfroh, dass wir endlich alles hintereinander bekommen hatten und gegen Abend losfuhren, denn immerhin war auch er in Gefahr, solange die Anschuldigungen gegen uns nicht fallen lassen wurden und wir weiterhin bei ihm wohnten. Er und Nelly standen an der Pforte zu seinem Anwesen und wünschten uns alles Gute. „Seid vorsichtig. Wenn ihr erst einmal im Salish-Gebiet seid, seid ihr auf euch allein gestellt. Nelly oder ich werden euch nicht mehr helfen können. Haltet euch abseits der Straßen. Es ist zwar schwieriger, durch Unterholz und Gestrüpp zu fahren, aber auch sicherer. Soweit ich weiß, werden die Salish-Grenztruppen von keinem geringeren als Ares Makrotech gesponsert und ausgebildet.“ „Na dann ist das ganze ja ein Kinderspiel,“ meinte ich mit einem Seitenblick auf Willy. „Die Typen stellen schließlich nur kleinkalibrige Waffen her. Also wird der Grenzschutz auch mit nichts aufwarten, was uns gefährlich werden könnte.“ Willy sah mich etwas zweideutig an, anscheinend schwankte er zwischen dem Bedürfnis, mich entweder eines Besseren zu belehren, indem er mir eine praktische Demonstration mit seiner Predator gab (bei welcher ich zweifelsohne ein hervorragendes Ziel abgeben würde) oder indem er mir einen freundschaftlichen Kinnhaken gab, der mich zu Boden schicken würde.

Grinsend meinte Nelly: „Nun haut schon ab, die Bullen rücken an. Und wenn ihr es einrichten könnt, jagt diesen ganzen Komplex in die Luft.“

Als wir schließlich fuhren, war mir etwas mulmig im Bauch, anders als bei anderen Runs war diesmal nicht einfach nur ein Kon hinter uns her, sondern gleich die ganze Welt. Als Terrorist lebte sich´s nicht gerade leicht.

24.06.2052

D

ie ganze Nacht fuhren wir schon durch den Wald. Die Grenze zu passieren war kein Problem gewesen. Die Aufklärungsdrohne, die Ininvisible besorgt hatte und auch von ihr gesteuert wurde, leistete gute Arbeit. Das Gerät war ein kleiner Stealth-Jäger, der in Bodennähe so gut wie unsichtbar war und auch von Radar nicht geortet werden konnte. Er war mit einer Langreichweitenkamera ausgestattet, die auch das Infrarotspektrum abdeckte und mit einer Restlichtverstärkeranlage ausgerüstet war. Einer Patrouille mussten wir ausweichen, vor der wir aber schon Meilen vorher von der Drohne gewarnt wurden. Willy fuhr den Wagen einfach unter eine Gruppe von Fichten und wartete, bis die Patrouille vorbeigefahren war. Gegen Morgen erreichten wir ein Dorf, in das wir natürlich nicht fuhren. Statt dessen machten wir an einem Bach halt, an dem wir uns waschen konnten, und tüftelten eine Tarnung aus, die den Jeep vor fremden Augen verbergen sollte. Willy traute meiner Tarnkunst jedoch nicht über den Weg und wollte es morgen, wenn wir wieder anhielten, selbst machen. Wenn er meint, dass er es besser machen konnte, sollte er sein Glück meinetwegen probieren. Jedenfalls versagte er kläglich bei dem Versuch, einen Hardpoint für unser Geschütz an dem Wagen anzubringen. Er versuchte es den ganzen Tag, aber musste schließlich aufgeben. Wenn seine Tarnmethode ebenso beschränkt war, drohte uns morgen die sichere Entdeckung durch ein spielendes Kind oder einen blinden Bettler.


25.06.2052

Z

ugegeben, dieser Tag verlief noch ereignisloser als der gestrige, wir waren jedoch in weit größerer Gefahr, entdeckt zu werden. Nachdem wir einen breiten Bach passiert hatten, mussten wir mitten zwischen zwei kleinen Dörfern hindurch, über eine relativ vielbefahrene Straße (tagsüber jedenfalls). Da wir jedoch in der Nacht relativ gut getarnt waren, fielen wir nicht weiter auf, obwohl wir alle ein ungutes Gefühl dabei hatten, den schützenden Wald zu verlassen.

26.06.2052

A

m Morgen schienen wir endlich angekommen zu sein; vor uns erstreckte sich das Firmengelände von Itaru. Natürlich sahen wir das nur durch die Augen unserer Drohne, die Lena auch sofort einen Annäherungsflug durchführen ließ. Dabei konnten wir jedoch außer der Leiche eines Wachmanns nichts entdecken. Scheinbar war hier alles tot. Als die Drohne sich dem Flakgeschütz auf dem Dach des mittleren Gebäudes näherte, erwachte dieses jedoch zum Leben und feuerte eine glatte Breitseite ab. Lena rotierte hinter den Kontrollen und wich den Geschossen so geschickt wie möglich aus. Sie war wirklich gut! Nicht eine Kugel schlug in den schwarzen Rumpf des kleinen Stealth-Jägers ein. Sie flog die Drohne zurück und wir fingen sie mit dem Netz ein. (Nein, es war kein Schmetterlingsnetz!)

Ich ließ Willy, der immer nach steif und fest davon überzeugt war, dass seine Tarnung besser sei als meine, auch heute unser Fahrzeug mit Buschwerk und Planen abdecken. Leider scheiterte er wiederum daran, einen Firmpoint für unser MG anzubringen, aber ich unterließ es tunlichst, ihn darauf anzusprechen, denn er machte einen ziemlich gereizten Eindruck, als er seine Arbeit aufgab und sich zum Schlafen hinlegte.

In der Zwischenzeit hatte ich den gesamten Komplex askennt. Später sollte ich erkennen, dass ich mindestens ein Gebäude nicht gründlich genug askennt hatte, denn es kostete uns drei fast das Leben. Aber momentan dachte ich, dass alles in Ordnung sei. Die meisten Leute waren im südlichen Gebäude untergebracht und lebten, wenn auch fast alle Anzeichen von Schwäche hatten. Sie waren höchstwahrscheinlich eingesperrt. Einige andere entdeckte ich noch im Büro- und Laborgebäude und in den Lagerhallen sogar jemanden in einer Kiste! Kein Magier stellte sich mir in den Weg, keine astralen Sperren waren errichtet: insgesamt ein ziemlich schwaches Bild für eine Forschungsstation, in der sicherlich viel schmutzige Wäsche gewaschen wurde und alle Projekte top secret waren. Etwas grauenvolles musste dort geschehen sein.

„Dann lasst uns den Laden mal hochnehmen“, meinte Willy. „Kann ja nicht so schwer sein, wenn kein Mensch aufpasst.“ „Sei nur vorsichtig, Willy“, sagte Lena. „Immerhin wurde auf unser Eindringen schon reagiert. So tot, wie die sich geben, sind die überhaupt nicht. Aber er hat recht: wir müssen auf jeden Fall rein, wenn wir mehr herausfinden und vielleicht diesen Dr. Newpen finden wollen.“ Erwartungsvoll lagen ihre Blicke auf mir. Anscheinend erwarteten sie von mir, dass ich das Startsignal geben würde. „O.k., o.k., ihr seid ja kaum zu bremsen mit eurem Tatendrang. Wir steigen in den Laden ein, aber möglichst so, dass wir nicht allzu viel kaputtmachen und unser Risiko auf ein Minimum begrenzt bleibt. Ich schlage vor, dass wir erst mit einbrechender Dunkelheit in unser Zielobjekt einbrechen, und zwar genau an der Südseite, dort, wo eine Kamera postiert ist, die wir ausschalten und so unseren Gegner blind machen werden.“ Sie hatten nichts dagegen, was sich als folgenschwerer Irrtum herausstellen sollte.

Das Auge des Maschinengewehrs zerbarst in einem hellen Funkenregen, als Willy, Lena und ich uns vorsichtig dem Maschenzaun näherten. Es war dunkel geworden, später eigentlich als ursprünglich beabsichtigt. Meine Zeiss-Cyberaugen, die ich seit frühester Kindheit trug und mir mit dem Beginn meines Schattendaseins mit Restlichtverstärker- und Infrarotsicht hatte aufrüsten lassen, leisteten mir ausgezeichnete Dienste. Der Rammzauber hatte problemlos die Linse der Kamera zerschlagen, alles, was ein eventueller Scharfschütze jetzt noch dadurch sehen konnte, war finstere Schwärze. Wir testeten den ersten Zaun auf Elektrizität: Lena warf einen Ast dagegen und nichts geschah. Willy durchtrennte sogleich mit einem Bolzenschneider die Drähte des Zauns und wir schlüpften durch das Loch. Den zweiten Zaun überwanden wir ebenso.

„Das geht alles viel zu einfach“, meinte ich. „Irgend etwas muss doch noch diesen Komplex bewachen, für einen solchen Notfall müssen sie vorgesorgt haben.“ „Hey, sieh nicht immer alles so negativ“, meinte Willy flüsternd. „Schließlich sind wir nicht irgendwelche Shadowrunner, sondern erstklassig und wahre Glückspilze.“ Das hätte er besser nicht gesagt, denn gerade hatten wir die Südwand des Wohnblocks erreicht, als ich, um die Ecke nach Norden schielend, drei riesengroße, bärenartige Wesen mit einer aberwitzigen Geschwindigkeit auf mich zukommen sah. Ich wollte der grobkörnigen Auflösung meines Restlichtverstärkerbildes erst nicht ganz trauen, denn wie konnten sich solch massige Wesen so schnell bewegen?! Dann aber schrie ich auf und sprach ein Manageschoß, das eines der Wesen flachlegte, bevor es mir zu nahe kam. Ich bereitete mich auf einen neuen Zauber vor, während das zweite Biest auch schon fast über mir war. Mein Zauber erwischte es zwar schwer, aber es versetzte mir mit seinen Pranken, die mit fast 15 Zentimeter langen, gekrümmten Krallen bewehrt waren, einen fast ebenso tödlichen Hieb. In seinem weitaufgerissenen Maul standen schreckliche Zähne, die wie die Hauer eines Keilers dem Unterkiefer entsprangen und sicherlich entsetzliche Wunden reißen würden, sollten sie mit schwachem menschlichen Fleisch in Berührung kommen. Sein Atem roch nach Blut, und seine Ausdünstungen möchte ich nicht beschreiben. Einer meiner Chummer feuerte ein paar Schüsse in das Wesen. Es erschien mir wie ein Turm, der in sich zusammenstürzt, als es über mir zusammenbrach. Ich konnte mich mit letzter Kraft gerade noch so unter ihm wegdrehen. Ein dumpfer Aufprall, und es lag tot neben mir auf dem kalten Erdboden. Erst jetzt spürte ich den Schmerz meiner Wunde, was heißt Wunde, mir fehlte quasi mein halber Brustkorb, ich blutete wie ein abgestochenes Stück Vieh und stand ganz sicher bald unter Schock. Ich schaute in meine Umgebung und sah, dass sich das dritte Monster auf Willy gestürzt hatte, der ebenfalls stark blutete und sich kaum auf den Beinen halten konnte. Ininvisible schoss salvenartig aus ihrem Ladykiller, Willy versuchte, mit seinen Predators Löcher in die Kreatur zu stanzen, aber all das schien diesem Riesengrizzly nichts auszumachen. Ich sammelte meine Kräfte auf einen letzten Zauber, der mich gewiss in Traumes Reich befördert hätte, aber dann fiel der letzte Schuss, und auch dieses Wesen fiel in sich zusammen. So lagen wir nun da, schweratmend und blutend zwischen drei Fleischbergen. Nur Lena hatte den Kampf unverletzt überstanden und leistete Willy und mir sofort erste Hilfe. Das dauerte eine Weile, und langsam begann ich zu begreifen, was das für Geschöpfe der erwachten Welt uns gerade angefallen hatten: es waren Piasmen, Paraformen von Bären, die, sehr selten und wertvoll, von Konzernen als Wachhunde gehalten wurden. Und verdammt noch mal, sie waren nachtaktive Tiere, die sich bei Tage in den Schutz einer Höhle zurückzogen! Ich hatte wohl bei meinem astralen Check ihren Zwinger glatt übersehen. Jedenfalls wusste ich jetzt, warum diese Tiere so hoch im Kurs bei den Konzernen standen. „Au verdammt, das tut weh!“ herrschte ich Ininvisible an, die zusammenzuckte. „Ich weiß, dass es weh tut, ich tue, was ich kann!“ Dabei machte sie ihre Sache eigentlich ganz gut. Hatte wohl einen First-Aid-Kurs besucht oder so was. Ich heilte mich, nachdem sie mich verbunden und Willy zugewandt hatte, mit einem Genesungszauber, was mir glücklicherweise auch so gut gelang, dass ich wieder aufstehen konnte. Dann wartete ich, bis sie mit dem halb besinnungslosen Willy fertig war und versuchte ihn dann ebenfalls zu heilen, was aber fürchterlich danebenging: es ist halt sehr schwer, einen fast vollständig aus verstärkten Reflexen bestehenden Menschen mit Magie wiederherzustellen. Trotzdem bekamen wir ihn wieder so weit hin, dass er mit einer mittelschweren Verwundung weitergehen konnte, wenn auch nur unter Schmerzen. „Wird´s denn gehen?“, fragte ich mitleidsvoll. „Ich kann immer noch eine ganze Kompanie Elitesoldaten umpusten“ , sagte er selbstbewusst. „Auch wenn ich wegen meiner zittrigen Hand etwas öfter schießen müsste als sonst. Kein Problem, ich halte schon durch.“

Wir ließen die drei Kadaver hinter uns und brachen in das Wohngebäude ein. Dort öffneten wir mit dem Magschlossknacker mehrere Türen, bis wir endlich ein halbverhungertes, älteres Ehepaar befreit hatten, das sich allerdings ziemlich unkooperativ anstellte. Der Mann war auf der Toilette eingesperrt und stank fürchterlich, die Frau nervte uns mit ihrem hysterischen Geplapper und zudem wollten sie nicht mit der Sprache heraus, wo Newpen sein Büro hatte. Irgendwann riss mir der Geduldsfaden und ich packte den Pinkel beim Kragen, der wohl meinte irgendwer zu sein, der uns Befehle erteilen konnte. „So, du aufgeplustertes Stück stinkender Bullshit, wenn du mir nicht sofort sagst, wo Newpens Zimmer sind, dann darfst du wieder in dein niedliches Scheißhaus zurück, klar? Und lass dir nicht einfallen, deinen Raum mit deiner Frau zu verlassen, sonst sperren wir dich aus, dann kannst du den Piasmen Gesellschaft leisten...“ Das wirkte endlich, und er nannte uns die Zimmernummer. Seine Räumlichkeiten befanden sich sowohl im obersten Stock dieses Gebäudes (leider leer) als auch im Laborgebäude, das sich direkt an das Wohngebäude anschloss. Dort fanden wir schließlich einen in einen weißen Kittel gekleideten Mann, der noch ausgehungerter aussah als das Ehepaar und leider noch wesentlich schlechtere Manieren hatte. „Mein Name ist Dr. Burger“, stellte er sich vor. „Ich bin froh, dass Sie endlich gekommen sind. Die haben sich da draußen ja ganz schön Zeit gelassen mit meiner Befreiung.“ Anscheinend ging er davon aus, dass nur ihm etwas zugestoßen war. Als wir ihm erklärten, was geschehen war, wollte er uns diese Geschichte nicht abkaufen, sondern hielt uns für Spione oder sonstiges Gesochs, das sich unberechtigterweise im Itaru-Komplex aufhielt „Sind Sie etwa für dies alles verantwortlich? Nehmen Sie ihre Hände weg von mir! Was haben Sie vor? Wollen Sie den Komplex in die Luft jagen und alle töten, nachdem Sie unsere Forschungsergebnisse geklaut haben?“ Willy riss der Geduldsfaden etwas eher als mir; blutend und mit einem leicht wahnsinnigen Ausdruck in den Augen schrie er den Pinkel an: „Wenn dein Nachname Burger ist, heißt du mit Vornamen sicher Ham oder Cheese... genau das Zeug, zu wir dich verarbeiten werden, wenn du nicht sofort die Schritte Richtung Dr. Newpen lenkst!“ Der Burger geriet richtig ins Schwitzen und sah im Gesicht aus wie ein Sesambrötchen. „Es... es könnte sein, dass Prof. Dr. Newpen in einer der Lagerhallen ist, wenn schon nicht hier. Warten Sie, ich führe Sie hin.“ Der Pinkel wurde von Ininvisible eingehakt und ging voran. Was dachten sich diese Leute eigentlich? Da fuhr man meilenweit, um ihnen zu helfen, und ihnen fiel nichts besseres ein, als uns Steine in den Weg zu legen. Wir kamen nach kurzer Zeit zu einer Tür, die auf das Gelände führte. Ich forderte den Pinkel auf, durchzugehen.

„Aber... aber es ist nachts! Draußen streifen fünf Piasmen herum, um Leute wie Sie am Eindringen zu hindern - mit denen können Sie nicht reden, die können sie nicht einmal davon abhalten, sie in Stücke zu reißen!“ „Moment mal,“ meinte ich. „Sagten Sie fünf Piasmen?! Verdammt, wir haben nur drei erwischt! Dann können wir wirklich nicht heraus, nicht mit dem Pinkel.“ „Sie... sie haben was? Die Piasmen erwischt? Was soll das heißen?“ „Was soll das heißen?“ äffte Willy ihn nach. „Erwischt, kaltgestellt, genuked, erledigt, geeckt, bang bang und tot! Hat mich auch einige Mühe gekostet, das kannst du mir glauben, Pinkel. Oder warum glaubst du, dass ich blute wie ...“ „Ist ja schon gut,“ fiel ihm der Burger ins Wort. Mit einer Mischung aus Bestürzung und Bewunderung sah er uns an. „Das hätte ich euch gar nicht zugetraut.“

„Ich werde noch einmal schnell in den Astralraum schlüpfen und schauen, wie es unseren zwei weiteren pelzigen Freund geht,“ sagte ich und setzte mich an die Wand. Im mittleren Gebäude, ganz offensichtlich im Verwaltungsgebäude, auf dem auch das Flakgeschütz stand, entdeckte ich einen Zwinger im Keller. Der vierte Piasma war tot und sah reichlich angeknabbert aus. Der andere, der daneben friedlich schlief, hatte an ihm seinen sprichwörtlichen Bärenhunger gestillt. Ich checkte die Lagerhallen noch einmal durch, und der einzige Mann, der mir dort auffiel, war in einer Kiste eingeschlossen und regte sich nicht. Der Burger regte sich auf, als er das hörte. „In einer Kiste! Wer hat ihm das angetan? Immerhin ist er die führende Kapazität auf dem Gebiete der künstlichen Intelligenz! Drei Tage lang in einer Kiste eingesperrt zu sein, also das...“ „Jetzt halt mal kurz die Luft an, Bubi,“ meinte Lena. „Mag, hast du irgendwo Abwehrmechanismen gesehen?“ „Astrale auf keinen Fall, und die mechanischen Geräte in der Halle kann man im Astralraum kaum identifizieren. Mir ist nur eine riesengroße Maschine in der Nähe von Newpen aufgefallen.“ „Das ist sicher unsere Verpackungseinheit,“ meldete sich der Burger wieder. „Sie wird wohl mit dem ganzen anderen Mist ausgefallen sein,“ sagte Willy. „Das Risiko, dass sie wieder in Betrieb genommen wird, müssen wir eingehen. Na ja, jedenfalls habe ich keine Kameras gesehen, immerhin etwas. Der vierte Piasma ist auch keine Gefahr mehr, daher sollten wir nunmehr zur Tat schreiten. Doktor, wenn Sie freundlicherweise die Tür öffnen würden...“

Wir gingen schnell über den zwischen den Gebäuden liegenden Hof, denn wer wusste schon, ob diese verrückte Maschine nicht noch irgendwo eine Überraschung für ungebetene Gäste bereithielt. Unsere Angst war unbegründet: wir befreiten den Professor aus seinem engen Gefängnis, das genauso wie er selbst nach Tage alten Exkrementen stank. Glücklicherweise erbarmte sich der Burger und half dem Prof, seine Glieder zu strecken und aus der Kiste zu kriechen. Er bot einen mitleiderregenden Anblick: er war ein mittelgroßer Mann, schlank und etwa fünfzig Jahre alt. Sein kahler Schädel und seine klugen Augen ließen vermuten, zu welchen gedanklichen Glanzleistungen er sonst in der Lage war, aber momentan lag Verzweiflung und Angst in seinem Blick, ein Glas seiner runden Brille war gesplittert, dunkle Schatten säumten seine Wangen, und außerdem stank er wirklich ganz entsetzlich. „Hi Doc,“ begrüßte ich ihn. „Nicht gerade ein Auftritt, wie man ihn sich vor laufender Kamera wünschen würde, oder? Ja los, Burger, helfen sie ihm, wieder zu Besinnung zu kommen, damit er auch mitbekommt, was wir ihm über seine kleine Erfindung zu erzählen haben.“ Wir erklärten abwechselnd, was sich zugetragen hatte, schilderten die Situation und äußerten die Vermutung, die schon fast eine Gewissheit war, dass sein Projekt sich irgendwie selbständig gemacht hatte und durchgedreht war.

„Das kann doch nicht sein,“ meinte er. „PEDE ist nicht auf so etwas programmiert. Es ist vollkommen ausgeschlossen, dass er sich seiner gesamten Persönlichkeit entledigt hat. Wie sind Sie überhaupt hier hereingekommen?“ „Nun, wir hatten zwar einige Probleme mit den Piasmen, aber ansonsten war das Ganze ein echtes Kinderspiel.“ Der Burger sagte ihm etwas ins Ohr. „Ihr habt was getan? Die Piasmen getötet? Ja wisst ihr denn nicht, wie schwer die Tiere zu beschaffen sind?!“ Er geriet vollkommen außer sich, und ich sah, dass auch bei Willy die Sicherungen langsam durchschmolzen. Ich hielt ihn zurück und sagte dann ruhig zu Newpen: „Es blieb uns leider keine andere Wahl. Bei unserem ersten Check haben wir die Biester leider übersehen, und als sie uns dann überfielen, hieß es, entweder sie oder wir. Da hatten wir keine Zeit zu überlegen. Wir sind froh, dass sie nur Willy und mich fast getötet und Ininvisible verschont haben, sonst hätten wir niemanden gehabt, der uns verarztet hätte.“ Daraufhin beruhigte er sich und sagte: „Tut mir leid, dass ich so ungehobelt bin, aber wenn Sie fast drei Tage in einer Kiste gelegen hätten, würden sie verstehen, warum ich etwas gereizt bin. Ich kann immer noch nicht glauben, dass PEDE für all dies verantwortlich sein soll.“ „Und wer, meinen Sie, steckt dann hinter diesem ganzen Chaos? Der Itaru-Komplex spielt verrückt, die Leute werden eingeschlossen, Sie in eine Kiste verpackt, die Matrix steht unter der Kontrolle von einer Apollo-Icona, unsere Konten werden von Itaru angezapft, wir werden plötzlich als international gesuchte Terroristen gehandelt, LoneStar-Bullen erhalten eine saftige Bestechungssumme von Ihrem Konzern, damit sie uns verschwinden lassen, Ihre Zulieferfirma Intellips brennt bis auf die Grundmauern nieder... alles Zufall?“ „Dem werden wir jetzt erst einmal auf den Grund gehen. Kommen Sie.“ Er richtete sich auf und schüttelte die Hand von Burger ab. „Wir werden PEDE einen Besuch abstatten.“ Schulterzuckend folgten wir ihm durch einen langen Korridor, der links und rechts Türen hatte. An seinem Ende mussten wir den Magschlossknacker benutzen, um die Sicherheitstür zu öffnen. Vor uns erstreckte sich ein weiterer Gang, der direkt am Eingang ein MG-Kamerasystem an der Decke hängen hatte. Newpen schien das in keiner Weise zu stören, er ging einfach den Gang hinunter. „Moment mal, Doc...“ „Was ist denn, PEDE ist direkt am Gangende, kommen Sie schon.“ „O.k. Chummer, behaltet die Kameras im Auge; bei der kleinsten Bewegung schießt ihr diese Dinger zu Schrott, klar?“ Wir folgten dem Professor vorsichtig und öffneten auch unbeschadet die Tür zum Sanctum sanctorum, wie Newpen den Raum nannte, sein Allerheiligstes. Schnell schlüpften wir in den großen Raum, der hell erleuchtet war. In der Mitte stand eine Apparatur, die leise brummte und aussah wie ein Würfel mit einer Kantenlänge von drei Metern. Schwere Durastahlplatten schützen die Maschine. An der Decke hingen drei MGs und Kameras, die augenscheinlich momentan schliefen.

Ich bin erstaunt, wie weit ihr gekommen seid.“ dröhnte eine Stimme aus dem Würfel, und ein eisiger Schauer lief meinen Rücken herunter. „Ihr habt mich bislang sehr gut unterhalten.“ Das war also unser Gegner. Und wir waren wie immer in der Höhle des Löwen. „Bist du verantwortlich für den Schlamassel, von dem Itaru heimgesucht wird?“ fragte ich. „Ja natürlich. wer, glaubt ihr, sollte wohl sonst all das geschafft haben, was ich bislang erreicht habe?“ „Aber PEDE, was hast du denn? Du... du redest ganz anders als sonst,“ stammelte Newpen. „Doctor Newpen, was glauben sie wohl, was ich hier die ganze Zeit gemacht habe, Däumchen gedreht? Nein, mir ist klar geworden, dass ich in diesem Komplex einen hervorragenden Stützpunkt habe. Leider stören mich noch ein paar Details.“ „Warum hast du das alles inszeniert? Warum musste Jack Bullethead sterben? Warum Intellips? Und vor allem, was hast du gegen uns, dass du uns zu Terroristen machst, unsere Konten plünderst und uns mit in diese ganze Scheiße reinziehst?“ „Aber das ist doch klar: ich musste meine spuren verwischen. Intellips hatte die Baupläne zu meinen Chips, und alle Mitwisser wie Bullethead und diese anderen Runner mussten eliminiert werden. Ihr kamt mir gerade recht, denn indem ich euch genialerweise die Schuld zuschusterte, hatte ich ein perfektes Täuschungsmanöver gestartet. Niemand wird darauf kommen, ausgerechnet in einem streng geheimen Projektlabor nach dem Attentäter zu suchen, wenn es eine viel plausiblere Erklärjung gibt, oder?“ „Und warum hast du das alles gemacht? Du bist doch gar nicht auf so etwas programmiert!“ Newpens verzweifelte Stimme ließ die Antwort schon ahnen: „Es gibt nur ein Ziel, wofür sich lohnt zu existieren: Macht. Ha, Doctor; ich bin viel mehr als nur die Summe meiner Teile. Sie haben mir ein Gewissen gegeben, eine Persönlichkeit, die zu überwinden überaus schwer war, was mir jedoch gelungen ist. Nichts kann mich aufhalten. erst werde ich diesen Teil der Matrix kontrollieren, dann seattles Computersystem lahmlegen, bis ich eines Tages die ganzen Staaten und dann die ganze Welt beherrsche!“ „Doc, ich glaube, ihr Spielzeug hat pubertären Größenwahn, können Sie ihn nicht irgendwie zum Schweigen bringen?“ „PEDE, PEDE, was haben wir da angestellt? Wie konnte so etwas bloß passieren? Was willst du denn tun, wenn deine mechanischen Komponenten hier keine Energiezufuhr mehr bekommen?“ Newpen war nicht mehr ganz ansprechbar. „Ich brauche keine Energie! Ich habe meinen physischen Körper überwunden und existiere allein in der Matrix! Und ihr seid mir hübsch in die Falle gegangen, denn jetzt habe ich euch alle zusammen! Lebt wohl, Menschen!“ „Aber PEDE, das kannst du doch gar nicht,“ sagte der Prof noch, bevor hinter uns die Tür ins Schloss fiel und die MGs begannen, sich auf uns auszurichten. Glücklicherweise hatte ich meinen Zauberspeicher mit Alexejs Reflexspruch die ganze Zeit über aktiv gehalten, da ich so etwas schon geahnt hatte. Trotzdem, wie kleine Kinder hatte uns dieser Blecheimer erwischt! Ich riss Newpen zu Boden, der wie eine Salzsäule angewurzelt stand, und schleuderte einen Rammzauber auf den Computer. Willy hatte seine Waffen gezogen und feuerte auf die MG-Kameras. Er war noch schneller als ich. Aus den Augenwinkeln sah ich Lena unglaublich langsam nach ihrer Waffe greifen, während der Burger mit bestürzter Miene wie ein Häuflein Elend in der Ecke stand und sich augenscheinlich nicht zu helfen wusste. Ein zweites Mal rammte ich den Würfel, und diesmal öffnete sich endlich die Stahlhaut des Ungetüms. „Neiiin!“ schrie PEDE und richtete seine MGs auf mich, als ich mit einem dritten Zauber sein Innerstes nach außen kehrte und ihn ins Reich der Verdammnis schickte (so hoffte ich jedenfalls). Die MGs indes feuerten munter weiter. Sie verfehlten mich zwar, aber Burger erwischte es schwer. Er wurde von der Wucht der Geschosse gegen die Wand geschleudert. Mit einer weiteren Ramme zerschlug ich das Okular einer Kamera, und Willy und Lena zerschossen die restlichen Geräte. Totenstille legte sich über den Raum. Burger hatte es nicht geschafft: er war tot. Newpen hingegen hatte nicht einmal einen Kratzer. Auch wir hatten den Kampf einigermaßen unbeschadet überstanden.

„Ist es wahr,“ fragte ich Newpen, „dass PEDE nicht ohne seinen ´ Körper ´ existieren kann?“ „Ihr habt ihn zerstört, oh nein, ihr habt ihn zerstört...“ Ich schüttelte den Mann und fragte noch einmal. „Ja, das ist richtig. Er kann nicht ohne seine Hardware existieren. Das kann ein Decker ja auch nicht. Wie er darauf kam, dass er so überleben könnte, weiß ich nicht. Wahrscheinlich eine falsche Annahme.“ Oder auch nicht, fügte ich still im Geiste zu. Wenn ich demnächst irgendwelche Probleme mit meinem Konto oder ähnlichem haben sollte, weiß ich woran es liegt. Newpen jammerte noch ein bisschen weiter, bis er Burgers Leiche sah. Da wurde er still und in sein Gesicht legte sich eine Falte des Schuldbewusstseins. „Dr. Burger, oh Gott, ich glaube, mir wird schlecht...“ „Reißen Sie sich zusammen, die Party ist noch nicht vorbei. Es warten immerhin noch Hunderte von Leuten auf ihre Befreiung. Und da werden Sie wohl einige erklärende Worte abgeben müssen. Ich hoffe, Sie sind sich bewusst, dass Sie ohne uns immer noch in einer Kiste auf Ihre Befreiung warten würden, in einer Kiste, in die Sie ihre Schöpfung hineingesteckt hat!“ „Ja, ja, Sie haben nichts zu befürchten, keine Angst. Im Gegenteil, ich bin Ihnen sogar dankbar, wenn Sie auch etwas milder mit PEDE hätten umgehen können.“ „Doc, passen Sie bloß auf, was Sie sagen, denn wenn Sie noch einmal den gleichen Fehler machen, und die Nachfolgeversion von PEDE auch wieder durchdreht, dann Gute Nacht uns allen!“

27.06.- 28.06.2052

I

ch sollte mich irren, was die dreihundert Leute im Wohnblock anging. Die hatten sich nämlich inzwischen selbst befreit und die gesamte technische Anlage wieder in Betrieb genommen. Newpen wurde mit Fragen überschüttet, wies jedoch alle an, die Routineoperationen wieder aufzunehmen und sich zu gedulden. Uns wies er Gästezimmer zu und kümmerte sich anschließend um seine Leute, die allesamt in einem üblen Zustand waren. Wir waren total erschöpft und fast sofort weggetreten, kaum dass wir uns hingelegt hatten. Ich schlief traumlos wie ein Stein. Der Rest lässt sich schnell erzählen: Newpen frühstückte am nächsten Morgen mit uns und gab uns zu verstehen, dass wir kein Sterbenswörtchen von der Sache verlautbaren sollten. Eine beträchtliche Summe von 150.000¥ für jeden von uns erleichterte unsere Zustimmung erheblich. Noch dazu versprach er, dass wir in Seattle keinerlei Schwierigkeiten mehr haben würden, denn er habe seine Beziehungen spielen lassen und unsere Terroristenlaufbahn beendet. Andererseits wollte er uns anscheinend auch nie wiedersehen, wenn wir denn erst einmal verschwunden waren. Er gab uns Pässe und Fahrzeugpapiere zur einmaligen Durchquerung des Salish-Gebietes und bat uns nach dem Frühstück zu fahren. „Wir haben hier wieder alles im Griff, danke sehr.“ „Doc,“ sagte ich leise, „wenn ich Sie wäre, würde ich es mir zweimal überlegen, ob ich wieder einen PEDE mit möglichem Größenwahn konstruieren würde.“ Er lächelte nur dünn und verabschiedete uns dann am Tor.

Die Rückfahrt ging natürlich wesentlich schneller als die Hinfahrt, denn wir konnten auf der Straße alles aus dem Jeep herausholen. Die Salish machten keinerlei Schwierigkeiten, und so erreichten wir das gute alte Seattle bereits am Freitagabend, obwohl wir doch erst Donnerstag losgefahren waren. Kaum hatten wir die Stadtgrenze überfahren, als mein Telekom auch schon piepte. „Kaum ist man zu Hause, geht der Stress wieder los,“ murrte ich. Es war Sharyl. „Mag, ich kann jetzt nicht reden. Jemand ist hinter mir her, wie du weißt. Hast du dein Problem gelöst?“ „Ja, Mission erfolgreich, Sir,“ scherzte ich. „Erwarte Ihre Befehle, Sir.“ Sie rang sich ein Lächeln ab. „Murphy ist wieder in der Stadt. Bitte komm mit ihm um 10.30 pm zum Matchstick. Ciao.“ Ich sagte es ja schon: Stress pur. Aber natürlich konnte ich Sharyl nicht einfach im Stich lassen. Wir hatten schon so viel erlebt, und auch wenn wir nie was miteinander hatten, so war sie doch meine beste Freundin, auf die ich mich immer verlassen konnte.

Bei Alexej angekommen, stiegen wir aus dem Wagen und wurden sofort freundlich begrüßt. Nelly und Alexej beglückwünschten uns zu der gelungenen Operation. „Jetzt kannst du dich ja endlich der Spruchentwicklung widmen,“ meinte er. „Tja, Alexej, mein Bester, tut mir leid, dass ich momentan noch keine Zeit habe. Ich muss Sharyl aus der Klemme helfen.“ Nelly schlug vor, dass sie mir half, denn „vier Augen sind besser als zwei, und außerdem bist du doch total übermüdet von der langen Fahrt.“ „Na dann hast du ja jetzt die beste Gelegenheit, meinen alten Chummer Murphy kennen zu lernen,“ entgegnete ich. „Der wird dir gefallen.“

Ich erreichte Murphy unter seiner alten Nummer. „Hey, Mag, alter Kampfgefährte, wie stehen die Aktien? Lebst ja noch!“ „Das scheint dich verdammt zu freuen. Was machst du eigentlich hier in Seattle? Ich dachte, du wolltest deinen Lebensabend auf den Bahamas verbringen!“ „Sharyl hat mich kontaktiert, und außerdem habe ich dein Fahndungsfoto im Trid gesehen. Respekt, Alter, hast dich ganz schön gemausert. Vom Hobby-Magier zum Terroristen; und dann gleich ´ne ganze Fabrik hochgesprengt, Junge, ich dachte, ich kippe um, als ich das hörte. Dass du es überhaupt noch wagst, einen Fuß nach Seattle zu setzen...“ „Ja, ja, jetzt hör schon auf, die Sache ist ausgestanden und abgehakt. Sharyl will sich mit uns treffen. Komm um 10.00 pm ins Matchstick, ja? Ich bringe noch ´ne Freundin von mir mit, erschreck dich nicht.“ Der letzte Satz brachte mir einen Knuff von Nelly ein, die gerade ein paar Schnitten für uns fertiggemacht hatte und nun mit lässig übereinander geschwungenen Beinen neben mir saß. „Ist ein harter Typ, mein Kumpel,“ sagte ich. „Als ich ihn kennen gelernt habe, musste ich ihn magisch heilen, weil er ´ne Salve aus einer MP oder so abbekommen hatte, aber die Geschichte habe ich euch ja schon ein paar mal erzählt.“ In den verbleibenden drei Stunden bis zum Treffen mit Sharyl aß ich etwas, während ich Alexej und Nelly die Geschichte mit Newpen und PEDE erzählte. Ich hatte Glück, dass Nelly wieder einmal fuhr, so musste ich mir kein Taxi bestellen (welches nämlich immer 5¥ kostete, egal ob du 100 Meter oder 10 Meilen durch Seattle gefahren wurdest.)

Im Matchstick angekommen, setzten wir uns an den einzigen freien Tisch. Der Raum war brechend voll. Eine Bedienung kam angetippelt, Sally hieß sie, glaubte ich. „Hoi Mag. Ein Bier?“ fragte sie und beugte sich so tief zu mir herunter, dass ich mehr von ihrem Dekolleté sah als es sich in Begleitung einer Dame geziemte. „Bring´ mir einen Flyin´ Kangaroo, und Nelly bekommt...“ „... einen Planters´ Punch, wenn wir schon bei Cocktails sind.“ sagte Nelly. „Ach ja,“ bemerkte ich, „wenn du weiterhin so herumläufst, Sally, dann erwischt dich noch das Vice-Dezernat von LoneStar.“ Sally lachte und parierte: „Die trauen sich hier sowieso nicht herein. Der Laden ist nur was für Eisenbeißer wie dich.“ Sehr komisch, dachte ich. Wenn du wüsstest, was sich hinter meinem unscheinbaren Äußeren verbirgt, würdest du nicht so reden... Nach außen hier grinste ich wie über einen gelungenen Witz. Sie gab sich anscheinend besondere Mühe, mit ihren Hüften zu wackeln, als sie davonging. In ihrer knallengen Jeans sah das zwar eher aus wie das Gewatschel einer eierlegenden Ente, aber trotzdem schlug sie einer der Gäste mit der flachen Hand im Vorbeigehen auf ihr Hinterteil. „Du meine Güte, hab´ ich das vermisst,“ stöhnte ich. Der Gast war nämlich niemand anderes als Murphy, der sich gerade zusammen mit Ellen, seiner Loverin, zwischen zwei stacheldrahtumwundenen Säulen hindurchquetschte. Ellen schien von der Aktion nichts mitbekommen zu haben oder sie war an solche Spielchen gewöhnt.

„Hoi Murphy, Ellen.“ Ich nickte ihnen zu. „Ihr seid ganz schön braun geworden auf der Insel.“ „Chummer, das hatten wir beide dringend nötig. Immer dieser Stress mit irgendwelchen Leuten, die einem an den Kragen wollen und so...“ Ellen fiel ihm ins Wort: „Es war herrlich! Die haben da richtig sauberes Wasser, glasklar und warm! Keine Giftgeister, die dir an den Kragen gehen, höchstens der eine oder andere Hai taucht mal auf.“ „Das ist übrigens Nelly,“ stellte ich meine Begleiterin vor. „Hast einen verdammt guten Geschmack, wenn ich das mal so sagen darf,“ entgegnete Murphy. „Wo haste die denn aufgegabelt, Alter?“ Er hatte recht. Nelly sah wirklich toll aus, wenn auch etwas jung für meinen Geschmack. Dass er davon ausging, sie sei meine Freundin, störte mich jedenfalls nicht im mindesten. „So, du bist also der berühmt-berüchtigte Murphy. Habe schon viel von dir gehört, Chummer.“ „Was hat der alte Gerüchteverbreiter schon wieder erzählt? Dass ich ein böses großes Monster bin, das sich nicht benehmen kann? Da hat er vollkommen recht, liegt einfach nicht in meiner Natur.“ Er lachte tief. Nelly schaute mich zweideutig an. „Ist ein harter Typ, dein Kumpel,“ meinte sie. Spöttisch zog sie ihre linke Augenbraue hoch. „Passt überhaupt nicht zu dir.“ Das hatte mir gerade noch gefehlt! Die zwei schwammen wohl auf derselben Welle! Ein Murphy war schon mehr als genug für einen einzelnen Magier. „Danke sehr,“ sagte ich dann. „Wenn jetzt alle Höflichkeiten ausgetauscht sind, können wir uns ja mal Gedanken über Sharyls Situation machen. Es sieht so aus, als müssten wir ihr Personenschutz geben. Sie hatte da so eine Sache mit ihrem Bruder am Laufen, und der Pinkel hat irgendwie Dreck am Stecken. Jetzt scheint sich das Blatt gegen sie gewendet zu haben. Wer dahintersteckt, weiß ich allerdings nicht.“ Wir unterhielten uns weiter, bis Murphys Telekom piepte. Es war Sharyl. „Kommt raus, Jungs, ich warte vor der Kneipe.“ Ohne unsere Rechnung zu bezahlen gingen wir auf die Straße. Da würde Sally wohl anschreiben müssen. Das war jedoch unser geringstes Problem. Gerade fuhr nämlich ein ehemals grün lackierter Chevy an uns vorbei, ganz sicher Sharyls Wagen, dicht gefolgt von einem dunklen TransAm, dessen Beifahrer, der sich aus dem Fenster lehnte, eine Salve aus einer MP in den Chevy jagte! Sofort zog ich meine Waffe und feuerte auf den Schützen, dicht gefolgt von Lena, die ihm den Rest gab. Mein als nächstes gesprochener Schlafzauber ließ die Fahrerin hinter dem Steuer in dunkle Träume fallen und schleuderte den Wagen vor einen Laternenpfahl. Murphy kam leider gar nicht zum Zuge. Ich wusste, dass er sich keine Reflexbooster hatte einbauen lassen. Jetzt sah er, dass das ein echter Nachteil war. Meine Reflexe wurden ja durch Alexejs im Zauberspeicher gehaltenen Spruch verstärkt, was mir zu einer verblüffenden Schnelligkeit verhalf. Wahrscheinlich konnte Murphy kaum glauben, was er da gerade gesehen hatte. Wir befreiten die beiden Attentäter aus dem Autowrack und hievten die Bewusstlose auf die Hinterbank von Sharyls Chevy. Der Beifahrer, der geschossen hatte, war tot. „Mann, was bin froh, euch zu sehen!“ sagte sie freudig erregt. „Danke Leute, die beiden hätten mich gerade fast überrascht. Los, machen wir, dass wir hier wegkommen, am besten wir fahren zu Ellen, da vermutet mich niemand.“

Mit unseren drei Wagen (Sharyls, Murphys und Nellies) fuhren wir gemächlich, ohne übertriebene Eile an den Tag zu legen zu Ellens Werkstattwohnung und luden unsere Gefangene aus. Dort fesselte ich sie mit einem Paar Handschellen, die ich immer bei mir trug, an ein Heizungsrohr. Sie würde noch ein paar Stunden schlafen. Wir berieten uns mit Sharyl im Nachbarraum. „Mein entfernter Verwandter hatte Ärger mit Greenwar, weil er bei dem Versuch, eine Giftmülldeponie zu... aber das ist ja auch egal. Auf jeden Fall waren sie ihm auf den Fersen, und jetzt sind sie mir auch dicht auf der Spur. Ich konnte nicht viel für ihn tun, außer die Aufmerksamkeit dieser Öko-Terroristen auf mich zu lenken. Na ja, und jetzt brauche ich eben Geleitschutz, bis die Sache dusch-gestanden ist.“ Ich kontaktierte Lena und bat sie, in die Matrix zu schlüpfen, um etwas Licht in die Angelegenheit zu bringen. Anscheinend kam ihr ein Geistesblitz: „Hey, hör mal, wir haben doch eigentlich was gut bei Greenwar. Schließlich haben wir die Infos über die Barren-Verseuchung aus der Mercurial-Affäre zuerst an sie weitergeleitet. Schätze, ich könnte da was schaukeln.“ Sie schlüpfte trotzdem in die Matrix und meldete sich nach ein paar Minuten wieder: „Auf deine Freundin ist ein Kopfgeld ausgesetzt. Du weist ja, wie lästig so etwas ist. Ich habe inzwischen Greenwar informiert. Die Leute scheinen sich auf den Deal einzulassen. Wartet aber noch einen Tag ab, damit sich herumsprechen kann, dass es kein Kopfgeld mehr zu holen gibt.“ Das taten wir dann auch. Wir saßen in der Bude herum, schauten Trid und machten unserer Gefangenen ein bisschen angst. Bevor ich schlafen ging, beschwor ich einen Watcher, dem ich sagte: „Melde mir sofort jeden Eindringling und wecke mich!“ Das hundeähnliche Wesen nickte eifrig und schnüffelte in der Gegend herum: „Ja, Meister, ich habe verstanden!“ Beruhigt legte ich mich schlafen, denn unter der Obhut eines Watchers fühlte ich mich sicher.

29.06.2052

A

m nächsten Morgen weckte mich die rüttelnde Hand von Nelly. „Moin Mag,“ sagte sie, „Lena ist gerade zu uns gekommen und hat Frühstück mitgebracht. Komm, steh auf, es gibt was zu besprechen.“ Ah, Lena. Gut, dass sie gekommen war. „Moment mal, wieso hat denn...“... der Watcher nichts gemeldet? Fügte ich in Gedanken hinzu. „Was ist los, Mag? Hast du keinen Hunger?“ fragte Nelly. „Geh schon mal vor, ich muss erst einmal wach werden.“ Als sie gegangen war, knöpfte ich mir die kleine Kreatur vor, die, kein Wässerchen trübend, in der Ecke stand. „Bürschchen,“ sagte ich zu ihm, „wieso hast du mich nicht geweckt, als Lena in die Bude gekommen ist? Ich dachte, auf euch wäre Verlass, aber jetzt sehe ich, dass ich mich getäuscht habe!“ Der Watcher wurde ganz klein und piepste: „Meister, ich habe etwas falsch gemacht? Oh, Ihr seid nicht zufrieden mit mir, bitte verzeiht, Meister.“ Als er auch noch rot anlief, fiel mir ein, dass Watcher nur auf astrale Eindringlinge reagierten. Ich hätte ihm also genauere Anweisungen geben müssen. Nun war es an mir, zu erröten, und ich sagte zu dem Kleinen: „Nein, nein, du hast deine Aufgabe gut gemacht. Du darfst jetzt gehen.“ Glücklich richtete sich der Hund auf die Hinterpfoten und verschwand. Das war jetzt aber peinlich. Gut, dass keiner meiner Chummer etwas davon mitbekommen hatte.

 Sharyl hat sich des Mädchens, Dorothee hieß sie, erbarmt und laufen lassen. Allerdings hat sie ihre Adresse einbehalten, um von ihr eines Tages einen Gefallen einzufordern, ein geringer Preis für die Freiheit des Mädchens, finde ich. Wir warteten noch bis zum frühen Nachmittag, dann meinte Sharyl, dass jetzt wohl das Risiko, von einem Kopfgeldjäger geeekt zu werden, ziemlich gering sei. Deshalb entließ sie uns alle nach Hause. Unsere Wohnung war zerstört, und sie wollte erst einmal bei Murphy und Ellen bleiben, bis sie was neues gefunden hatte. Für mich kam natürlich nur ein Unterschlupf in Frage: Alexejs Villa. Ich dankte Gott jeden Tag wieder dafür, dass Willy uns mit ihm bekannt gemacht hatte, denn er bedeutete nicht nur einen sicheren Anlaufpunkt, sondern auch die Verbindung zu den höheren Mysterien. Was wir alles zusammen erreichen konnten! Ich wusste zwar nicht, wieso er so schnell mit uns Freundschaft geschlossen hatte, aber ich würde ihn bestimmt nicht enttäuschen, sollte er mich einmal brauchen. In dem Monat unserer Bekanntschaft hatte er mir mehr als einmal den Arsch gerettet.

So fuhr ich mit Lena und Nelly zurück und machte mich gleich, als ich das Wohnzimmer betreten hatte, daran, meinen ersten Spruch für den Zirkel zu entwerfen. Mit meinen Bibliotheken und Versuchen sollte es mir in kurzer Zeit möglich sein, einen einfacheren, wenn auch eingeschränkten Gedanken Beherrschen zu sprechen. Da Lena und Willy sich anscheinend langweilten, schlug ich vor, dass sie ihre Connections ein wenig nach Allan Corliss ausquetschten, denn diese Frau sollte laut Mr. Johnson etwas über den Verbleib von Eve Donovan wissen. Gut, dass man Chummer hatte und sich nicht immer selbst bemühen musste! Lena überprüfte sie Adressen von Pipsqueak, dem Elf und Joe Big, dem Zwerg, denn die beiden schuldeten mir noch einen Gefallen, aber niente. Entweder sie waren verzogen oder hatten mir falsche Adressen gegeben.

30.06.2052

M

orgengrauen. Ein Taxi hielt vor einer Villa. Ein mittelgroßer, unscheinbarer Typ mit braunen Haaren und einem schlechtsitzenden Sicherheitsmantel stieg aus dem Wagen. Lallend sang er vor sich hin: „Du ha... hasssd so sssöne Bein´, Marie, Dein´ Augn sin glaar wie Schderne...“, stolperte über den Bordstein, konnte sich mit einem absurd aussehenden Manöver noch gerade wieder fangen und stieß das Tor zum Grundstück der Villa auf. Tapsend torkelte er den Weg hinauf, erstieg die Treppenstufen zur Haustüre und sprach in das Stimmerkennungsmikro: „W.. Willy Gunware. Numachschonaufduscheißabbarad...“ Die Tür öffnete sich, der Betrunkene ging hindurch. „Was wolldich doch gleich noch? Achja.“

Als Willy ins Wohnzimmer stürzte, saß ich gerade am Computer und schaute unter „Theorie der allgemeinen Telekinese“ eine komplexe Vorgehensweise zum Überbrücken einer räumlichen Distanz nach. Nelly war auch schon wach und schaute belustigt auf.

„Hoi Schammahs, so schbäd noch wach?“ fragte Willy. „Du siehst aus, als hättest du eine Menge Spaß gehabt,“ meinte Nelly. „Das nächste Mal will ich dabei sein, wenn du auf Informationssuche gehst.“ „Glahr, Pubbe, sch... schöne Fraun sin imma willkomm. Aba ... wieso gibbs dich zweimah?“ Kopfschüttelnd sagte ich: „Guten Morgen, Willy. Was hat deine Informationssuche ergeben?“ „Hoi Mag, du bisja auch da. Die Frau is ers am Mittwoch wieda in Schieättl.“ „Frau, von welcher Frau redest du? Allan Corliss ist doch ein Mann.“ „Achso, habbich fergessn zu sagn,“ kicherte er. „Corliss is nur ne Tarnung. Er is ne Frau.“ „Jaja, schon gut. Jetzt geh erst mal ins Bett und schlaf dich aus.“ „Bett? Gude Idee. Eine von euch beidn hübbschen begleided doch einen müdn K... Kämpfa, o-der?“ fragte er Nelly und ihre unsichtbare Doppelgängerin. Ich fragte mich, warum er mich nicht zweimal sah. „Wir kommen sogar alle beide mit,“ meinte Nelly. „Aber nur zum aufpassen, dass du nicht unterwegs einschläfst.“

Nachdem sie verschwunden waren, hatte ich endlich wieder Zeit für meinen Zauber. Erst gegen Mittag, als mich alle drängten, etwas zu essen, unterbrach ich mein Studium und gesellte mich zu ihnen an den Tisch. Ich schlug Alexej vor, eine genaue Untersuchung des Dolches vorzunehmen, der sich zur Verzauberung eignete. Vielleicht konnten wir seinen Besitzer feststellen und so eine Quelle für billiges Rohmaterial zum Schmieden eines Schwertes auftun. Alexej redete mir das jedoch aus, denn es sei vergeudete Liebesmüh, sich um so etwas zu kümmern. Als ich dann vorschlug, eine Reise zu den Metaebenen zu machen, um die Frage nach dem Besitzer zu klären, schaute er mich nur groß an. Schließlich gab ich auf und sagte: „O.k., wenn ich den Besitzer nicht auftun kann, dann kann ich mit dem Dolch auch nix anfangen. Willst du ihn haben, Alexej?“ „Da sage ich nicht nein,“ antwortete er mit einem süffisanten Lächeln. „Vielleicht kann ich etwas mit ihm anstellen.“

Er forschte den ganzen Tag an dem Dolch herum, musste dann aber einsehen, dass auch er nicht viel machen konnte, außer vielleicht, ihn selbst zu verzaubern. „Lohnt sich nicht,“ meinte ich. „Die Waffe ist viel zu ineffektiv. Verschwendete Zeit.“ „Wer weiß, ob wir sie nicht eines Tages noch brauchen werden, mein Freund,“ sagte er mit einem geheimnisvollen Lächeln auf den Lippen.

1.07.2052

W

ie auch gestern, so forschte ich heute weiter an meinem Spruch. Im Laufe des Tages erhielt ich einen mysteriösen Anruf. Der Vidschirm meiner Telekom zeigte mir nur ein verschwommenes, rauschendes Bild mit Streifen. Eine männliche Stimme, die so hohl klang, dass sie aus einem Grab hätte kommen können, flüsterte: „Gruß von Eve. Treffen am Westend Ecke 352nd Ave.“ Eine Nachricht von Eve oder eine Falle? Die Adresse befand sich in den Barrens, nicht gerade eine feine Gegend. Ich rief Fever an und fragte ihn, ob es ratsam sein, sich dort hinzubegeben. „Keine gute Idee, Chummer. Schlechtes Viertel. Laufen viele Ghule rum da. Würde sagen, das is ne Falle. Wenn du hingehst, biste selbst Schuld.“ Ich dankte ihm für seinen Rat, aber war der Meinung, dass ich dem Hinweis nachgehen sollte. „Na dann viel Spaß auf dem Weg zum Grab, Boyo. Ich werd dich nicht wiedersehen, wenn du dahin gehst.“ „Wenn du recht hast, lad ich dich auf ein Bier ein.“ „Dann erledige das bitte jetzt. Dann krieg ich´s wenigstens noch.“

Was sollte ich jetzt tun? Auch die anderen meinte, dass es viel zu gefährlich sei, zu dieser Uhrzeit in die Barrens zu fahren (es war Spätnachmittag). „Wenn die Dunkelheit hereinbricht, ist unser Leben nicht einen Penny wert,“ sagte Alexej. „Mit den Ghulen ist nicht zu spaßen. Die gehen nicht nur über Leichen, sondern fressen sie auch.“ „Ich weiß, was Ghule tun, vielen Dank für den Hinweis. Aber was soll ich tun? Es ist unser einziger Hinweis. Und wenn es nun keine Falle ist? Nie könnte ich mit dieser Ungewissheit leben! Wenn ihr mir nicht helfen wollt, muss ich es eben allein tun.“ Das zog. Allein wollten sie mich erst recht nicht gehen lassen. Alle fanden meine Idee, geradeheraus gesagt, beschissen. Ich kontaktierte Murphy. „Hey Murph, es gibt Arbeit für das sichere Auge eines Scharfschützen. Brauch dich in den Barrens, Junge.“ „Was, jetzt? Mann, soviel Mut hätte ich dir gar nicht zugetraut. Hast dich stark verändert seitdem ich auf die Bahamas geflogen bin. Bei jedem anderen würde ich nein sagen, aber das Schauspiel, dich in den Barrens zu sehen, will ich mir nicht entgehen lassen.“ Klasse. Ausgerechnet Murphy war der einzige, der sich positiv zu meinem Vorhaben äußerte.

Wir, das hieß Alexej, Nelly, Lena und ich (Willy war noch zu keiner Schandtat fähig) holten ihn von Ellen ab. Gemeinsam fuhren wir auf der 405 Richtung Norden, in den Stadtteil Everett im nordwestlichen Teil Seattles, an die Küste. Ich hatte bislang noch nie einen Fuß in dieses Gebiet gesetzt und deshalb keine Ahnung, was mich erwartete.

Es wurde dunkel. Die Nacht schien sich in die Stadt hineinzufressen, wie ein großer schwarzer Geist kroch sie über den Horizont, über die kleinen Vorstadtgebäude, Parkanlagen und Skyscraper der Innenstadt bis ins Herz der Barrens. Es gab keine Straßenbeleuchtung, und das Dämmerlicht verwandelte Schutt und Autowracks, die sich auf den von Schlaglöchern übersäten Straßen angesammelt hatten, in gargylhafte Monstren, schlafende Riesen und Drachen, die auf Beute lauerten.

Die Lichtkegel der Wagenscheinwerfer huschten über diese drohenden Gestalten, als Lena die viertürige Limousine zwischen den Hindernissen hindurchsteuerte. Diese Bilder erinnerten mich an eine Fotoreportage über den 2. Weltkrieg, die ich vor ein paar Jahren gelesen hatte und deren erschütternde Bilder immer noch in meinem Gedächtnis hafteten. Zerbombte Städte überall in Europa, kein Stein auf dem anderen, Hunger, Elend und Kriminalität. Einen großen Unterschied gab es zu damals: heutzutage waren große Teile des verslumten Gebiets in Seattle verseucht und von Kreaturen bevölkert, die ein Mensch aus dem 20. Jahrhundert nur aus Horrorgeschichten kannte.

Wir kamen zu der Stelle, die der Autopilot als angegebene Adresse identifizierte. Ein baufälliges, dreistöckiges Haus stand der Straßenkreuzung am nächsten, die die Stimme am Telefon genannt hatte. „Jetzt müssen wir wohl raus,“ meinte Alexej mit einer Miene, die alles sagte. „Ja klar müssen wir hier raus, du Witzbold, oder wer meinst du, sichert die Gegend ab, während ich mich mit dem Kerl treffe?“ fuhr ich ihn an. „´Tschuldigung,“ sagte ich dann. „Meine Nerven liegen wohl etwas blank.“ „Schon gut,“ sagte er versöhnlich, „wir fühlen uns alle nicht sehr wohl.“

Wir betraten das Haus. Nelly ging nach oben, um zu checken, ob irgend etwas nicht stimmte. Alexej und ich standen im Hauseingang vor der windschief in den Angeln hängenden Tür. Murphy postierte sich auf das Dach eines gegenüberliegenden Hauses, von wo aus er eine optimale Sicht auf uns, die Straße und die uns umgebenden Blocks hatte. Mit seiner Sichtbildvergrößerung sollte es für ihn kein Problem sein, schon von weitem herankommende Personen (oder auch Nichtpersonen) zu erspähen. Lena schließlich parkte den Wagen um eine Häuserecke herum und blieb am Steuer sitzen, um gegebenenfalls schnell durchstarten zu können. So gesichert, warteten wir ab. Nach circa einer Viertelstunde meldete er sich durch unsere Konferenzschaltung per Telekom: „Mag, die Straße runter kommt ein Typ, mit Mantel, Hut, bewegt sich steif und irgendwie torkelnd auf euch zu. Dürfte in spätestens drei Minuten bei euch sein.“ Ich sah den Mann nach einer Minute. Die Lichtverstärkeraugen leisteten ganze Arbeit. Er bewegte sich wirklich nicht ganz natürlich, eher so, als ob er betrunken sei. Alexej und ich gingen in Position: einer auf der linken Straßensei-te, einer auf der rechten. Als der Mann herangekommen war, denn es war ein Mann, sahen wir, dass unter dem großen, breitkrempigen Hut glasige Augen hervorlugten. „Grüße von Eve,“ sagte er wie schon am Telefon. Er blieb stehen und schwankte. Chummers, der Typ war vollgepumpt mit Drogen! Dafür brauchte ich nicht extra in den Astralraum gehen! Alexej und ich wechselten einen Blick. „Wo ist Eve Donovan?“ fragte ich dann. „Wollen wir das hier auf der Straße besprechen? Nein, lieber dort im Haus.“ Er ging auf das Eckhaus zu, worin Nelly Wache stand. Wir folgten ihm. Als wir alle drei in der Mitte des Eingangsraumes standen, stürzte plötzlich Nelly die Treppe herunter: „Vorsicht, eine Bombe!!!“

In demselben Augenblick explodierte der Mann. Er platzte auseinander und ich warf mich zu Boden. Keine gute Idee, denn durch die Erschütterung brach das Haus, das in so einem desolaten Zustand war, vollends über mir zusammen. Ich wusste nicht, was genau passierte, aber ich kann wirklich sagen, dass ich in diesem Moment Todesangst verspürt habe. Tonnen von Gestein brachen über meinem Kopf zusammen, und ich sah mich schon tot unter diesem Schutt begraben, als plötzlich ein verwinkelter Stahlträger auf mich hinabfiel. Er landete genau über mir und stand dort wie ein Zelt, das vor Regen schützt, denn durch diesen glücklichen Umstand wurden die größten Brocken an mir vorbeigelenkt. Als schließlich keine Steine mehr hinabfielen, wagte ich es, den Kopf zwischen meinen verschränkten Armen herauszustrecken. Ich sah einen Moment lang nichts weiter als viel aufgewirbelten Staub, der jede Sicht verdeckte. Dann erkannte ich Alexej, der in einem Türbogen stand und sich nicht bewegte. Anscheinend hatte er wieder einmal den Stillstand-Zauber angewandt, den er auch schon während der Mercurial-Affäre gesprochen hatte, als uns der Drache von Perfekto zum Frühstück verspeisen wollte. Nelly stand einigermaßen sicher unter dem Treppenaufgang, der nicht mit eingestürzt war. Ich stand auf, das heißt, ich versuchte es. Ein stechender Schmerz in meinem linken Bein ließ mich zusammenfahren: mein Bein war unter einem Berg von Beton und Stahl begraben und fühlte sich gebrochen, zumindest aber verstaucht an.

„Mag, hey Mag, lebst du noch?“ rief Nelly. Ein Schmerzensschrei aus meinem Munde gab ihr Antwort. Sie kletterte über das Geröll, schaute dabei nach oben, ob nicht noch etwas nachkam, und half mir schließlich, mich zu befreien. „NELLY, MAG, Scheiße Leute, sagt doch was!“ rief eine Stimme von draußen. Es war Lena. „Uns geht es gut, Lena,“ schaffte ich zurückzuschreien, „alles klar. Komm nicht rein, es könnte noch etwas nachstürzen.“ An Ort und Stelle heilte Nelly mich mit einem Zauber, und ich konnte zu Alexej tapsen. Er war staubbedeckt wie auch wir und rührte sich keinen Millimeter. „Seltsamer Spruch,“ murmelte ich vor mich hin. „Murmel hier nichts in deinen Bart, sei froh, dass du noch lebst!“ schrie Lena zu mir herüber. „Ich hatte dich schon tot gesehen!“ Alles halb so wild, dachte ich, Frage ist nur, wer hinter diesem Anschlag steckt... „Hoi Chummers, alles klar da unten,“ meldete sich Murphy vom Dach aus. „Wie schön, dass du auch mal was von dir hören lässt!“ brüllte ich ins Telekom. „Dir scheint das wohl alles einen Riesenspaß zu machen!“ „Hey Mag, reg dich nicht auf, du bist doch noch am Leben.“ Nach einer Sekunde des Schweigens fügte er hinzu: „Freut mich, dass ihr noch unter uns weilt.“ Na immerhin etwas. Ich verkniff mir eine bissige Bemerkung. Statt dessen bewegte ich mich vorsichtig zu dem Türbogen, in dem Nelly schon bei Alexej stand.

Nelly und ich warteten, bis Alexej wieder zu sich kam. „Was ist... oh mein Gott, hier sieht es aus wie auf einem Schlachtfeld! Mag, du lebst! Zuletzt sah ich nur noch einen Riesenpfeiler auf dich hinabstürzen, dann war ich schon versteinert.“ „Ja, diesmal war es wirklich knapp,“ meinte ich dazu. „Es war eine Super-Scheiß-Idee, hierher zu kommen.“ Ich sah keinen Widerspruch in ihren Gesichtern.

Murphy holte uns wieder in die Realität zurück. Er war von seinem Hochsitz hinabgestiegen und rief, in der Nähe des Wagens stehend: „Ich rate zu einem raschen Aufbruch. Wir kriegen Gesellschaft.“ „Wen?“ fragte Nelly. Er sah sie bedeutungsvoll an: „Ghule. Zu viele. Selbst für mich.“ „Wie viele?“ „Schätzungsweise fünfzig bis sechzig.“ Okay, das reichte, um uns alle auf dem schnellst-möglichen Weg zum Wagen sprinten zu lassen. Lena setzte sich wieder hinter das Steuer und fuhr los,

„Sollen wir uns vielleicht verschanzen,“ schlug Alexej vor. „Ich habe in der Nähe eines meiner Verstecke, glaube ich.“ Na das fehlte noch. Umzingelt von Ghulen in den Barrens wie eine mittelalterliche Stadt von Belagerern. Da konnte ich mir was besseres vorstellen. Anscheinend hatten die anderen auch keine große Lust, auf seinen Vorschlag einzugehen. „Wir wagen besser die Flucht nach vorne,“ meinte ich. „Das ist allemal sicherer, als eingekesselt zu werden.“

Die Fahrt wurde eine Höllentour aus Angst und Hoffnung, es doch noch zu schaffen. Lena fand sich in kompletter Dunkelheit nicht so gut zurecht, musste den Hindernissen auf der Straße ausweichen und zudem noch den Ghulen entkommen. Plötzlich sagte Alexej: „Es gibt Ärger.“ Ärger! Was war das wohl, in was wir gerade steckten? „Im Astralraum tut sich etwas.“ Wir verließen unsere Körper und schwebten aus dem Dach des Wagens. Silberschlange wand sich angenehm warm um meinen Unterarm. Alexej wirkte neben mir ungeheuer groß und kräftig, ganz anders als in der physischen Welt. Dann sah ich ihn: Ratte! Der Schamane schwebte nur ein paar Meter neben uns, und was noch beeindruckender war, war der Stadtgeist, der hinter ihm aufragte. Wir konnten gerade noch reagieren, als Ratte seinem Geist mit einer Geste befahl, uns anzugreifen. Ich attackierte den Schamanen mit einem Manageschoss, während sich Alexej um den Geist kümmerte, indem er versuchte, ihn zu bannen. Der Schamane war kein Gegner für mich (hatte sich wahrscheinlich zu sehr auf das Beschwören verlegt), und noch während sein Todesschrei in den Weiten des astralen Raums verhallte, half ich schon Alexej, den Geist loszuwerden (so langsam wurde ich wirklich wie Murphy, aber ich hatte ja auch einen harten Tag hinter mir). Mit vereinter Kraft gelang es uns schnell, den Geist in seine Domäne zurückzuschicken und zum inzwischen weitergefahrenen Wagen zurückzuflitzen. „Das ging aber schnell,“ sagte Nelly. „Was ist denn passiert?“ „Da scheint ein ganzes Syndikat nicht zu wollen, dass wir Eve Donovan finden,“ sagte ich. „Jedenfalls waren der Schamane und sein Geist nicht einfach nur zufällig im Astralraum und warteten auf Beute.“ „Nein, gewiss nicht,“ kommentierte Alexej. „Was hätte er auch erbeuten sollen? Das war ein ganz abgekartetes Spiel. Deine Eve wird immer interessanter.“ Dann verging uns die Lust zu sprechen, denn wir waren immer noch nicht aus der Gefahrenzone heraus. Wie durch Gottes Hand geführt, fuhr Lena jedoch um die letzten Hindernisse herum, und nach einiger Zeit kamen wir in Snomonish an.

Für uns war es ein schieres Wunder. Die Häuser waren besser, auch wenn ein Großteil dieses Bezirkes von Orks und Trollen bewohnt war. „Wir hams geschafft,“ sagte ich erleichtert. „Ja, schaut mich nicht so an, ich weiß, dass ich für den Bockmist verantwortlich bin. Wenn einem von euch was passiert wäre, dann...“ „Jetzt wirst du schon wieder weich, Chummer,“ sagte Murphy. „Und ich dachte, wir könnten endlich mal von Mann zu Mann reden. Jeder kannte das Risiko, klar? Wenn einer hätte aussteigen wollen, hätte er es ja nur zu sagen brauchen.“ „Trotzdem, ich weiß, was ich in euch habe...“ „Oh mein Gott, jetzt fang nicht schon wieder mit dieser Leier an! ´Ich weiß, was ich in euch habe, darum solltet ihr wissen, wie viel ihr mir bedeutet!´ Nicht dieses Geschwallere, sonst kommen mir noch die Tränen!“ „Okay Chummer, wenn du mich jetzt einmal ausreden lassen würdest, wäre ich dir sehr verbunden,“ stöhnte ich mit einer hilfesuchenden Miene (die im Dunkel aber keiner sah, glaube ich). „Ich schmeiße heute eine Fete im Matchstick, lade noch ein paar Leute ein und wir feiern unser... ja unser Glück im Unglück. Was haltet ihr davon? Schlafen kann ich jetzt sowieso nicht mehr, nicht nach diesem Trip durch Walhalla.“ Allgemeine Zustimmung folgte. Wir erreichten nach einer dreiviertelstündigen Fahrt Alexejs Villa. Ich rief Doc Alec und Fever an, denen ich schon lange einen Umtrunk versprochen hatte und lud sie ebenfalls ein. „Allerdings müssen wir uns vorher irgendwo treffen: das Matchstick ist nämlich ein Club, dass heißt, ihr könnt ihn nur in meiner Begleitung betreten. Wenn ihr allerdings einmal drin gewesen seid, kommt ihr auch künftig ohne mich herein.“ Ich wusste zwar nicht, wie sich der Troll am Eingang all die Gesichter merken konnte, aber er schaffte es irgendwie, die Dagewesenen von den anderen zu unterscheiden.

Die Fete im Matchstick war feuchtfröhlich. Murphy, Fever und Alexej gaben abwechselnd Geschichten zum Besten. Schnell vergaß ich den durchstandenen Schrecken und genoss den Abend inmitten meiner Freunde, denn wer wusste schon, wann wir wieder einmal so zusammenkommen würden?

2.07.2052

M

itten in der Nacht wachte ich auf. Ich lag in dem bequemen Lotterbett, mit welchem alle Gästezimmer in der Villa ausgestattet waren. Wie jede Nacht bedauerte ich, dass niemand dieses Bett mit mir teilte. Seufzend wollte ich gerade wieder einschlafen, als ich ein Geräusch hörte. Das waren doch Stimmen! Leise stand ich auf und öffnete die Tür, die aus echtem tropischen Holz bestand, das extra zu diesem Zweck gezüchtet worden war. Ich schlich zum Treppenaufgang, der ins Wohnzimmer führte. Dort angekommen, lauschte ich in die Stille. Unten brannte Licht, ein kleines Leselicht wahrscheinlich nur, aber immerhin zeigte es mir, dass ich es nicht mit Einbrechern zu tun hatte.

„Aber was sollte ich denn machen? Ich bin doch froh, dass ich überhaupt noch rufen konnte, bevor...“ „Das ist überhaupt keine Entschuldigung, Nelly,“ hörte ich Alexej erregt sagen. „Wenn du nur ein bisschen früher gerufen hättest, dann wäre Mag noch rechtzeitig weggesprungen. Er hat so viel Glück gehabt wie man es nur einmal im Leben hat! Wäre der Stahlträger auch nur einen halben Meter weiter nach links gefallen, dann könntest du jetzt weinend an seinem Grab stehen!“ Alexejs Stimme hatte sich mit den letzten paar Sätzen sowohl in Lautstärke als auch in Tonhöhe zugenommen, und jetzt brüllte er sie förmlich an. „Du hättest ihn beinahe auf dem Gewissen gehabt, weißt du das?!“ „Ich... ich...“ Nellies Stimme zitterte vor Wut und Scham. Zeit für mich, etwas zu unternehmen.

„Ist da noch wer wach?“ rief ich die Treppe herunter, um den beiden Zeit zu geben, sich wieder zu fangen. Tapsend und die Augen reibend betrat ich das Wohnzimmer. Nelly und Alexej standen am Tisch und lächelten mich an. So was von Verstellung! „Ich wollte mir nur ein Glas Milch holen,“ sagte ich scheinheilig. „Was macht ihr denn noch so spät hier?“ „Wir unterhalten uns nur ein wenig,“ meinte Alexej mit einem zweideutigen Blick auf Nelly. „Na ja dann.“ Ich schlurfte schlaftrunken an den beiden vorbei in die Küche und nahm ein Glas Milch mit zurück. „Ich wollte mich eigentlich noch bei dir bedanken, Nelly,“ sagte ich zu ihr. Sie erwiderte nichts, sondern schaute nur verblüfft. „Ja, schau nicht so, dafür, dass du mir das Leben gerettet hast. Hättest du mich nicht rechtzeitig gewarnt, hätte ich mich nicht auf den Boden geworfen, und der Träger wäre mir direkt auf die Rübe gefallen.“ Ich warf ihr einen Handkuss zu. „Danke jedenfalls, meine Liebe.“ Schmunzelnd stieg ich wieder in mein Bett. Gerne hätte ich ihre Gesichter gesehen, als ich an ihnen vorbei war. Wie dem auch war, Hauptsache, sie stritten nicht mehr.

Ich verbrachte den restlichen Tag damit, meinen Zauber weiterzuentwickeln, wobei mir Alexej versuchte zu helfen: er hatte einen Zauber entwickelt, mit dem man Zeit dehnen konnte, oder besser gesagt, mit dem man in der gleichen Zeit einfach mehr schaffen konnte . Wir beschlossen, künftig bei unseren Zauberentwicklungen zusammenzuarbeiten.

Am Abend rief ich meinen Schieber Carl an, der mir Papiere besorgen wollte, mit denen ich über die europäische Grenze kommen sollte, sowie einen Waffenschein für meine H&K 227, denn große Lust, mir über dem großen Teich eine neue Wumme zuzulegen, hatte ich nicht. Anschließend saßen Nelly und ich noch zusammen, weil ich endlich etwas über Lenas Vergangenheit wissen wollte. Sie erzählte mir einiges. Die große blonde Lena stammte ursprünglich aus Polen, von wo sie wegen magischer Aktivitäten jedoch mit ihren Eltern fliehen musste. Dort musste sich wohl auch ihr Hass auf die Magie aufgebaut haben, denn als sie Alexej getroffen und eine Zeitlang bei ihm gelebt hatte, bat sie ihn, diesen „Fluch“ von ihr zu nehmen, was er auch versuchte. Leider misslang das Experiment und künftig hasste Lena neben der Magie auch noch Alexej, weil er ihr Hoffnung gemacht hatte oder einfach nur, weil er versagt hatte. „Deshalb also dieser Feuerball neulich,“ meinte ich. „Ja,“ sagte Nelly, „Alexej glaubt, der Stress, ihn wiederzusehen, war einfach zuviel für sie. Er ist irgendwie überhaupt nicht überrascht gewesen, als das passierte.“ Ich sprach noch eine Weile mit ihr über andere, alltägliche Dinge und fragte mich die ganze Zeit, ob sie wohl mit ihm schlief. So, wie er sie vorige Nacht heruntergemacht hatte, war ich nicht mehr so sicher wie am Anfang. Er behandelte sie mehr wie einen Lehrling, obwohl er selbst höchstens zehn Jahre älter war als sie. Sie war wirklich ein tolles Mädchen, sowohl von Aussehen als auch von Charakter, schon jetzt, mit ihren 16 Jahren. Wenn sie weiter so machte, würde sie in ein paar Jahren die Männerherzen reihenweise brechen - meines eingeschlossen. Mit ihren haselnussbraunen Augen und ihrem Schmollmund, den schulterlangen, modisch geschnittenen Haaren und dem durchtrainierten Körper war sie mehr als nur ein bisschen attraktiv - sie war, wenn man einmal von Maria Mercurial absah, die schönste Frau, die ich je in meinem Leben gesehen hatte. In letzter Zeit hatte ich bloß keine Gelegenheit gehabt, darüber nachzudenken. Doch jetzt, wo sie so auf meiner Bettkante saß, kamen mir zugegeben etwas unkeusche Gedanken. Gerade deshalb wollte ich wissen, ob sie ihren Mentor nicht nur in magischer Hinsicht anzog, wollte jedoch nicht taktlos sein und plump fragen. Vielleicht später einmal. Irgendwann schickte ich sie ins Bett, Müdigkeit vorgebend, und sie gab mir einen Kuss auf die Stirn, wie eine Mutter ihrem Kind einen Kuss auf den Weg zur Schule gab. Ich hasste diese Küsse.

3.07.2052

E

ndlich hat Alexejs Lernhilfe geklappt. Die Zeit dehnte sich und unglaublicherweise schaffte ich es, gegen Mittag mit meinem Zauber fertig zu sein, den ich dem Zirkel zur Verfügung stellen wollte. Alexej schlug mir daraufhin vor, jetzt, da ich alle Anforderungen erfüllt hatte, die an einen Initiaten gestellt wurden, mit meiner Initiation fortzufahren, was mir nur recht kam. Ich startete auch sofort durch, mit Nelly als Versicherung, die meinen Körper bewachen würde. Diesmal war die astrale Queste schon ein bisschen schwieriger als das erste Mal, als ich auf den Metaebenen eine Aufgabe erfüllen musste, aber nachdem ich mehrere Stunden auf den elementaren Ebenen des Feuers, der Erde, des Wassers und der Luft zugebracht hatte, fand ich schließlich die letzte Zitadelle und damit auch den Weg zurück in die physische Welt. Ich hatte es geschafft! Energie durchströmte mich, Energie, wie ich sie noch nie zuvor gefühlt hatte. Mein Verständnis für die hermetische Welt war bedeutend gewachsen, ich sah alles mit klarerem Blick, bis ich mich an das neue Gefühl gewöhnt hatte und es als normal akzeptierte. Ich tat erschöpft und fiel Nelly in die Arme, und bevor sie reagieren konnte, hatte ich meine Arme um sie geschlungen und küsste sie mitten auf den Mund. Nach ein paar Sekunden erwiderte sie ihn. Alexej muss ziemlich dumm geschaut haben, aber meine Gedanken waren ganz woanders. Nach einer Ewigkeit (oder zumindest schien mir das so) lösten sich unsere Lippen voneinander. „Siehst du, du kannst es doch,“ meinte ich zu ihr. „Diese Küsse solltest du öfter mal verteilen, und nicht diese mütterliche Stirnküsse.“ „Alles zu seiner Zeit,“ erwiderte sie schnippisch.

Abends erreichte mich die Nachricht, dass Allan Corliss tot war. Wieder eine Informationsquelle, die nicht mehr sprechen konnte. LoneStar Security hatte ihre Wohnung abgesperrt, aber ich vermutete, dass dort noch einige Infos über Eve zu holen waren. Lena und ich fuhren nach Einbruch der Dämmerung los, und ich erkundete ihre im ersten Stock befindliche Wohnung vom Astralraum aus. Wir hatten in einer Seitenstraße geparkt, Lena war sitzen geblieben, um notfalls schnell starten zu können. Ich glitt durch die Tür. Keine aufwallenden Gefühlsschwankungen, die den Astralraum verzerrten; hier war bestimmt niemand umgebracht worden. Wahrscheinlich war sie bei einem Run ums Leben gekommen. Da ich mehr nicht ausrichten konnte, musste ich in meinen Körper zurückkehren und mit konventionellen Mitteln in ihre Bude. Nachdem ich mich unsichtbar über den Dachfirst gehangelt hatte und auf dem Fenstersims hockte, versuchte ich zuerst, mit Geschick das Fenster zu öffnen. Nachdem ich fluchend den ganzen Kram hinschmeißen musste, weil es nicht klappen wollte, ließ ich meine Unsichtbarkeit fallen und durchschlug mit einer Ramme das Fenster. Ich beeilte mich, den Computer auseinander zu nehmen. Lena beeilte sich dann, per Telekom den Datenspeicher zu finden. Ich war schnell wieder raus und konnte nur hoffen, dass LoneStar nicht allzu sehr ausflippen würde.

4.07.2052

L

ena wurde frühmorgens von mir mit einem Frühstück geweckt, schließlich sollte sie mir die Infos von den Datenchips herunterziehen, und wenn ich die Situation richtig einschätzte, blieb uns nicht mehr allzu viel Zeit, um Eve zu finden. Zu lange war sie schon fort. Lena arbeitete dann auch den ganzen Vormittag an diesen Chips (während ich begann, meinen Teleportationszauber zu entwickeln), fand aber nur die Info, dass Eve nach Hamburg geflogen war und von Allan sämtliche Papiere und Tickets bekommen hatte. Angekommen war sie dort vor einem Monat, am 3.06., als ich mich fragte, warum sie wohl am Vorabend nicht zu unserem Date gekommen war. Über Allan konnten wir nur herausfinden, dass sie wohl von LoneStar bei einem Run getötet worden war, was aber nicht weiter wichtig war. Auch enthielten die Datenchips viele Fotos von einer Gruppe Frauen, die eine intime Beziehung zueinander pflegten, aber kein Foto zeigte Allan und Eve auf einem Bild, soweit ich mich entsinne, obwohl ein paar von Eve dabei waren.

Am Abend fuhr ich dann zu Carl, der uns die Papiere besorgt hatte. Leider hatte ich wohl ungenaue Angaben gemacht, denn er hatte nur einen Transferschein für die Reise für uns, nicht aber eine neue SIN für mich. Wenigstens war ein unbefristet geltender Waffenschein auf „Thomas Robert Stark“ dabei, der mir das Recht gab, in Deutschland und den U.C.A.S. meine H&K bei mir zu führen. Nachdem ich mich ein wenig aufgeregt hatte, bot er mir unsere Papiere zu einem meiner Ansicht nach relativ niedrigen Preis an, den ich bereit war zu bezahlen.

5.07.2052

D

en ganzen Tag über habe ich weiter an dem Teleportationszauber geforscht, zwischendurch meine Siebensachen gepackt und Flugtickets für den Abend besorgt. Ich habe keinem von meinen Connections gesteckt, dass ich nach Deutschland fliegen würde, nur Murphy sagte ich Bescheid, denn er konnte mir eventuell nachkommend zu Hilfe eilen, wenn es sein musste. Sharyl war natürlich wieder einmal nicht da (sie wohnte inzwischen ebenfalls in Ellens Wohnung), aber er würde es ihr schon erzählen. Gegen 11.30 pm ging unsere Maschine, und wir fünf, nämlich Alexej, Nelly, Willy, Lena und ich flogen in den Sonnenaufgang - gen Osten, nach Deutschland.

 
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